Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
meine Mutter auf tiefgreifende Weise verändert und sie misstrauisch, ja sogar ein wenig wahnhaft gemacht hatte.
»Sie hat ihre Gründe«, sagte Mutter nur.
Meine Mutter, die fließend Französisch sprach, hatte ihren eigenen Namen für Auntie: la sorcière – die Hexe. Auch Auntie sprach Französisch, und Vater hatte gedacht, dass es meiner Mutter ein Trost wäre, wenn sie jemanden um sich hatte, mit dem sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte. Doch Constance und Jacob berichteten, dass es nicht viele Unterhaltungen zwischen den beiden gab, und weder sie noch mein Vater, der kein Wort Französisch verstand, wussten, worum es ging, wenn Mutter und Auntie in gedämpftem, manchmal unheilverkündendem Ton miteinander sprachen.
Hin und wieder stellte ich Auntie Fragen über meine Mutter – Fragen, die Vater zu stellen ich nicht übers Herz brachte. Welche Farbe hatten ihre Augen gehabt? Wie hatte ihre Stimme geklungen? (Braun mit einem Goldstich, sagte Auntie. Und sie sang wie eine Lerche.) Das war das Wunderbare an Auntie: Sie sagte einem alles, was man wissen wollte. Sie war nicht der Ansicht, dass man Kindern bestimmte Dinge vorenthalten sollte. Sie sah in mir ihre Schülerin, ja sogar ihren Schützling, und versuchte mich so gut es ging zu unterweisen – sie zeigte mir, wie man Pilze suchte, nach dem Mondzyklus pflanzte und mit Hilfe von Blumen oder Rinde Fieber stillte.
»Wie ist meine Mutter gestorben?«, fragte ich sie einmal, als ich sieben oder acht Jahre alt war. Wir saßen gemeinsam in ihrer Hütte, und sie brachte mir gerade das Sticken bei. Ich stickte ein kleines Kissen mit einem Gänseblümchen in der Mitte. In Aunties kleinem Kanonenofen brannte ein Feuer, ein Topf mit Hühnersuppe köchelte darauf und erfüllte die Hütte mit wunderbar heimeligem Duft.
»Sie ist verblutet«, sagte Auntie. »Nach einer schwierigen Geburt ist es manchmal nicht möglich, den Blutfluss zu stillen.«
Mitunter träumte ich von meiner eigenen Geburt: davon, wie ich schreiend und strampelnd in einem See aus Blut auf die Welt kam und Aunties starke Hände mich nahmen und in die Höhe hoben.
Constance hatte sich mit neunzehn Jahren verlobt und die Hand eines Verehrers angenommen, den sie nur einigermaßen gut leiden konnte, weil sie es so eilig hatte, aus dem Haus zu kommen. Sie wagte nie, es laut auszusprechen, doch mit der Zeit hatte sie Auntie zu hassen gelernt. Ich sah ihren starren Blick und ihr aufgesetztes Lächeln, wann immer Vater zugegen war. Manchmal hörte ich, wie sie den Namen gebrauchte, den meine Mutter Auntie gegeben hatte: la sorcière .
Jacob hingegen vergötterte Auntie. Er tat alles, um ihr zu gefallen, und verbrachte so viel Zeit mit ihr, wie sich nur irgend bewerkstelligen ließ. Auntie brachte uns beiden das Jagen und Fallenstellen bei und lehrte uns, jedes beliebige Tier zu häuten und die Haut zu gerben. Jacob folgte ihren Lektionen voller Eifer, er baute seine eigenen Schlingen und Fallgruben, schnitzte sich sogar einen Jagdbogen mit Pfeilen. Er lechzte förmlich nach Aunties Anerkennung.
»Ist es so richtig, Auntie?«, fragte er und steckte die aus Stein zurechtgehauene Pfeilspitze in den geraden Schaft, den er aus einem Buchenast geschnitten hatte.
»Perfekt«, lobte sie und klopfte ihm auf die Schulter. »Dieser Pfeil wird schnurstracks ins Herz eines Bocks fliegen.«
Jacob glühte vor Stolz.
Sie liebte uns beide so sehr, wie man seine eigenen Kinder lieben würde.
Prudence, die Schwester meiner Mutter, lebte damals noch und kam uns regelmäßig besuchen, wobei sie stets Geschenke mitbrachte: neue Kleider für Constance und mich, Hosen und eine feine Jacke für Jacob. Sie war die Erste, die an Auntie Anstoß nahm. Sie und Vater saßen zusammen in der Küche, tranken Kaffee und unterhielten sich. Ich hockte mich in den Flur und lauschte heimlich, konnte jedoch nur Fetzen von dem aufschnappen, was Tante Prudence zu meinem Vater sagte. »Es schickt sich nicht.« »Darf keinesfalls so weitergehen.« »Dreckige heidnische Hexe.«
Prudence war es auch, die Reverend Ayers und einige Männer aus der Stadt zu meinem Vater schickte.
»Reverend«, sagte Vater, als er die Tür öffnete. »Was führt Sie hierher?« Hinter Reverend Ayers sah er die anderen Männer: Abe Cushing, den Inhaber des Gemischtwarenladens, Carl Gonyea, dem das Gasthaus gehörte, Ben Dimock, Vorarbeiter in der Sägemühle, und den alten Thaddeus Bemis, den Patriarchen der riesigen Bemis-Sippe.
»Wir sind
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