Winterfest
schaltete den Lautsprecher ein.
»Hallo Papa«, sagte sie. »Ich bin’s.«
Er konnte an den wenigen Worten schon hören, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Dass etwas nicht stimmte.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie, ehe er etwas sagen konnte.
»Viel zu tun«, erwiderte er. »Und bei dir?«
»Ich dachte, ich besuche dich mal wieder.«
»Schreibst du über den Fall?«
»Nein, ich habe eine Auszeit genommen. Ich wollte nur mal wieder nach Hause. Ist dir das recht?«
Wisting kam direkt zur Sache: »Stimmt was nicht?«
»Ich muss nur mal raus hier. Abschalten.«
»Alles in Ordnung zwischen dir und Tommy?«
»Nein.«
Wisting schwieg und merkte, wie er die Stille, die entstand, auf dieselbe Weise benutzte wie in einer Vernehmung, wenn er den Befragten dazu bringen wollte, eine Aussage zu vertiefen.
»Es ist aus«, fuhr Line fort. »Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Ich dachte, ich fahre für ein paar Tage nach Hause, damit Tommy Zeit hat, seine Sachen zu packen und sich eine andere Bleibe zu suchen. Ist das okay?«
»Natürlich«, erwiderte Wisting. »Suzanne wohnt ja bei mir, sie hat das Haus voller Handwerker, aber das geht schon. Dein Zimmer ist frei.«
Am anderen Ende wurde es wieder still. »Vielleicht könnte ich in der Hütte wohnen?«, schlug sie dann vor.
»Hütte?«
»Ja, die du von Onkel Georg übernommen hast.«
»Ich weiß nicht, Line. Da hat schon seit Jahren keiner mehr gewohnt.«
»Dann wird es ja Zeit«, wandte seine Tochter ein. »Ich kann aufräumen und putzen. Dann komme ich auf andere Gedanken.«
»Aber ich weiß nicht, ob ich Zeit habe, dich dorthin zu bringen …«
»Das brauchst du nicht. Ich weiß, wo sie ist. Und Strom und Wasser sind auch da.«
Wisting hörte, wie die Idee mit der Hütte von Onkel Georg ihre Stimmung veränderte. Sie klang jetzt viel munterer.
»Der Schlüssel liegt zu Hause«, sagte er. »Nimm dir alles mit, was du an Putzzeug brauchst.«
»Das kaufe ich unterwegs. Ich muss ja sowieso Lebensmittel einkaufen.«
Er wünschte ihr viel Glück und beendete das Gespräch. In Gedanken sah er die Karte vor sich, die im Besprechungsraum an der Wand hing. Die Hütte, in der die Leiche gelegen hatte, war mit einem roten Kreis markiert. Die Entfernung zu Onkel Georgs Hütte in Værvågen konnte nicht größer als vier Kilometer sein. Und sie wussten immer noch nichts über den Mörder, der da draußen in der herbstkalten Küstenlandschaft herumlief.
13
Wisting durchsuchte die Schreibtischschublade nach einem Schmerzmittel. Er fand eine Schachtel Paracetamol, in der noch eine Tablette übrig war. Er drückte sie aus dem Blisterpack und spülte sie mit einem Schluck kaltem Kaffee hinunter.
Nils Hammer kam in das Büro, gefolgt von einem blassen, unscheinbaren Mann in einem unscheinbaren grauen Anzug. Wisting erkannte ihn wieder, es war Ingvar Arnesen vom Bestattungsinstitut Memento.
Hammer legte den Ausdruck eines vergrößerten Passbilds vor ihn auf den Schreibtisch. »Ottar Mold«, sagte er.
Wisting nahm das Foto des verschwundenen Leichenwagenfahrers in die Hand. Ein breites Gesicht mit dunklen, eng stehenden Augen, hoher Stirn, breitem Unterkiefer und einem kräftigen, bärtigen Kinn.
»Was wissen wir über ihn?«
Der Mann vom Bestattungsinstitut blieb stehen, während Hammer sich auf den Besucherstuhl setzte. »Eine ganze Menge«, erwiderte er und begann zu blättern. »Sechsundvierzig Jahre alt, zwei erwachsene Söhne, frisch geschieden, wohnt jetzt in einer Mietwohnung in Torstrand.«
Wisting winkte ihn weiter. Das wusste er alles schon.
»Das Interessanteste ist, dass er bereits gesessen hat«, sagte Hammer.
»Im Gefängnis?«
»Zwei Mal. 2002 drei Monate und 2004 ein halbes Jahr.«
»Wofür?«
»Hehlerei.«
Ingvar Arnesen trat einen Schritt näher. »Davon habe ich nichts gewusst«, versicherte er mit leiser Stimme.
Hammer zog ein paar zusammengeheftete Blätter hervor. »Das hier ist das letzte Urteil. Er hat gestohlene Computer, Fernseher und DVD-Player angekauft und sie dann weiterverkauft.«
Wisting sah den Inhaber des Bestattungsinstituts an und hätte ihn am liebsten gefragt, wie er einen solchen Mann einstellen konnte. Wenn es eine Situation im Leben gab, in der Menschen wirklich darauf angewiesen waren, anderen vertrauen zu können, dann im Zusammenhang mit einem Begräbnis.
Ingvar Arnesen räusperte sich. »Er war es, der zu mir gekommen ist«, erzählte er unaufgefordert. »Er sagte, er sei seit drei Monaten
Weitere Kostenlose Bücher