Winterfest
Ich bin Chief of Vilnius County Police Headquarters«, fügte er hinzu und übersetzte damit den Titel auf dem Türschild, bevor er der Sekretärin ein paar rasche Anweisungen auf Litauisch gab.
Das Büro des Polizeichefs war groß und warm, aber schlecht beleuchtet. Auf dem Parkettboden lagen dicke Teppiche. Die Fenster waren von Jalousien und dicken Vorhängen verdeckt. Ein ovaler Konferenztisch mit einer grünen Filzdecke war das dominierende Möbelstück. Zwölf Stühle umringten den Tisch. Mitten auf der grünen Decke standen eine Wasserkaraffe und ein paar Gläser.
Lancinskas bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, am oberen Ende des Tisches Platz zu nehmen. Kaum hatten sie sich gesetzt, klopfte es an der Tür und ein Mann im schwarzen Anzug betrat den Raum.
»Das ist Kriminalchef Antoni Mikulskis«, stellte ihn der Polizeichef vor. »Ihm obliegt es, Ihnen auf jede erdenkliche Art behilflich zu sein.«
Mikulskis begrüßte sie mit Handschlag und überreichte ihnen jeweils eine Visitenkarte, auf deren Rückseite die Kontaktinformationen in englischer Sprache gedruckt waren.
»Ist Ihre Reise gut verlaufen?«, erkundigte er sich und nahm Platz.
»Völlig problemlos«, versicherte Wisting.
Der Kriminalchef nickte, als freute es ihn, das zu hören. Dann öffnete er eine Mappe mit mehreren Dokumenten und nahm eins heraus, das das Logo der Polizei in Norwegen trug.
»Lassen Sie mich sehen, ob ich das hier richtig verstanden habe«, sagte er in wohlformuliertem Englisch. »Einer unserer Landsleute wurde in Südnorwegen zunächst angeschossen und später tot aufgefunden. Sie sind hierhergekommen, um mit drei namentlich bekannten Personen, die seine Reisebegleiter waren, und mit der Familie des Toten Gespräche zu führen.«
Wisting und Ahlberg nickten bestätigend.
Antoni Mikulskis streckte sich nach der Wasserkaraffe. »Ist jemand dieses Verbrechens angeklagt?«, fragte er und füllte Wasser in vier Gläser.
»Nein.«
»Ich verstehe Ihre Anfrage so, dass die Personen, die ihn auf der Reise begleiteten, Norwegen verlassen haben, ohne eine behördliche Stelle über die Sache zu informieren. Verhält es sich so, dass jemand von unseren Landsleuten verdächtig sein könnte, etwas mit dem Verbrechen zu tun zu haben?«
»Der Fall ist weitreichender, als Ihnen bekannt ist, und sehr kompliziert«, antwortete Wisting und legte die Aktenordner vor sich auf den Tisch. Er brauchte über eine Stunde, um die Details des Falles zu erläutern, und zeigte Fotos und Illustrationen. Er merkte, wie sein Bericht das Interesse der beiden Polizeichefs weckte. Als er eine Weile erzählt hatte, äußerten sie Ideen, Vorschläge und Kommentare zu den Ermittlungen.
»Sehr interessant – und sehr merkwürdig«, fasste der Polizeichef zusammen. »Ich hoffe wirklich, dass Ihre Reise nach Vilnius Ihnen Antwort auf alle Fragen geben kann.«
»Das ist auch unser Wunsch«, nickte Wisting.
»Lassen Sie uns über das Praktische sprechen«, schlug der Kriminalchef vor. »Die Sache stellt sich so dar, dass Sie einzelne inoffizielle Voruntersuchungen machen möchten, um anschließend gerichtliche Verhöre durchzuführen. Habe ich recht?«
»Sie haben recht.«
»Dann ist es wenig zweckmäßig, diese Leute hierher zu bringen. Stattdessen sollten wir sie unangemeldet besuchen.«
Wisting war derselben Meinung.
»Ich werde Sie persönlich begleiten. Wir können Sie morgen früh um neun mit einem Zivilfahrzeug vom Hotel abholen, wenn es Ihnen recht ist.«
Wisting hätte gern noch am selben Abend mit der Arbeit begonnen, stimmte aber dem Vorschlag des Kriminalchefs zu.
Die beiden litauschen Polizisten wechselten einige Worte in ihrer Sprache, bevor sie sich erhoben.
Wisting bedankte sich für den freundlichen Empfang und der Kriminalchef versprach, ihnen einen Wagen zu besorgen, der sie zum Hotel brachte.
Hier liegen die Antworten, dachte Wisting, als sie vor dem Polizeihaus standen und auf den Wagen warteten.
Gleichzeitig erfüllte ihn eine diffuse Unruhe. Er begriff, dass es das sein musste, was Suzanne mit ›Furcht vor dem Unbekannten‹ meinte. Die Vorstellung, dass jederzeit etwas Unvorhergesehenes und Dramatisches in diesem fremden Land passieren konnte, machte ihm Angst.
41
Von der Rückbank des Polizeiwagens aus konnten sie sehen, dass das Straßenbild von der jungen Generation geprägt war, die Litauen von einer Sowjetrepublik zu einer modernen Gesellschaft umgeformt hatte. Der Eindruck war ganz anders, als Wisting erwartet
Weitere Kostenlose Bücher