Winterfest
Fensterbank saß ein schwarzer Vogel und starrte sie aus glänzenden Knopfaugen an. Während Line ihn betrachtete, gesellte sich ein zweiter hinzu. Sie stand auf, aber die Vögel schreckte das nicht.
Ein dritter landete und drängte sich zwischen die beiden anderen, und jetzt sah sie, dass hinter ihnen ein ganzer Vogelschwarm dicht an dicht auf dem Verandageländer und in den Zweigen der umstehenden Bäume saß.
Wie auf ein Signal hin flogen alle gleichzeitig auf, sammelten sich, beschrieben einen Bogen und verschwanden über dem Hüttendach. Line trat ans Fenster, um nachzusehen, was sie aufgeschreckt hatte, konnte aber nichts sehen. Bevor sie sich wieder setzte, zog sie die Vorhänge zu. Sie waren zu klein, um das ganze Fenster zu bedecken, und ließen einen schmalen Spalt offen.
Sie konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm und scrollte im Text zurück, um die letzten drei Absätze noch einmal durchzulesen, hielt aber nach der Hälfte inne. Sie erhob sich wieder und ging zur Tür, schloss ab, trat einen Schritt zurück und horchte.
Ihr ganzer Körper war erfüllt von einem seltsamen Gefühl. Sie hatte das schon öfter gehabt. Viele Male. Wenn sie allein war. Abends. Wenn es dunkel war. Wenn seltsame Geräusche die Stille erfüllten. Aber noch nie so stark wie jetzt.
In ihr stieg das widerliche, schleichende Gefühl auf, nicht allein zu sein. Dass dort draußen in der Dunkelheit jemand war. Jemand, der sie beobachtete. Und wartete.
Sie wusste, dass es eine irrationelle Vorstellung war, fühlte sich aber verletzlich und allein. Sie holte ein paar Wäscheklammern aus dem Schrank in der Küche, zog die Vorhänge enger zu und klammerte sie zusammen.
Draußen war es jetzt stockdunkel.
Dann machte sie Feuer im Kamin. Diesmal begannen die Holzscheite gleich zu brennen. Das Knistern wirkte beruhigend und die Flammen tauchten den Raum in ein behagliches, flackerndes Licht.
Sie starrte ins Feuer, bis der Schein der gelben Flammen ihr in den Augen brannte.
Der Bildschirm hatte sich in den Ruhemodus verabschiedet. Sie strich mit dem Finger über das Touchpad vor der Tastatur und erweckte ihn wieder zum Leben. Dann las sie noch einmal ihre letzten Absätze und schnell waren ihre Gedanken wieder beim Text. Draußen hatte es angefangen zu regnen, aber es wehte kein Wind.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie aufschreckte. Da war ein fremdes Geräusch, und es kam nicht vom Kamin. Es kam von draußen, von der anderen Seite der Wand, an der sie saß. Ein dumpfer Laut, als stampfte jemand auf Gras. Dann hörte es auf.
Sie saß da und rührte sich nicht. Horchte angestrengt auf weitere Geräusche, konnte aber durch den Regen nichts hören.
Vor ihr auf dem Tisch lag die Visitenkarte des Polizisten, der sie vernommen hatte. Wenn etwas sei, solle sie anrufen, hatte er gesagt, als er die Karte dort hinlegte. Benjamin Fjeld, las sie. Sie nahm die Karte und drehte sie zwischen den Fingern, griff aber nicht zum Telefon.
Plötzlich hörte sie wieder das Geräusch von draußen. Schritte, gefolgt von einem Kratzen an der Wand.
Ein Tier, dachte sie. Ein Reh, das aus dem Wald hinter der Hütte gekommen war und draußen äste.
Sie stand auf, ging zur Küchenanrichte und ließ sich ein Glas Wasser ein. Bevor sie trank, kontrollierte sie die Eingangstür. Sie war abgeschlossen.
Die Küchenuhr zeigte halb elf. Sie war nicht müde, beschloss aber, ins Bett zu gehen und zu lesen. Sie speicherte die Datei auf dem Laptop ab und putzte sich die Zähne. Dann überprüfte sie, ob alle Fenster geschlossen waren, und holte eine Taschenlampe für den Fall, dass der Strom ausfiel. Ehe sie sich auszog, machte sie das Licht aus. Sie suchte ein T-Shirt heraus, in dem sie schlafen konnte, als plötzlich ein Schatten auf die Vorhänge fiel.
Sie erstarrte. Lauschte angestrengt, hörte jedoch nur das Geräusch ihres eigenen Atems und des Regens, der in regelmäßigem Rhythmus auf das Dach prasselte.
Aber da!
Da knackten die Holzdielen draußen auf der Veranda.
Ihr Herz raste in tödlichem Tempo. Pumpte alle Kraft aus ihr heraus.
Sie zitterte, als würde sie frieren, schwitzte, als wäre ihr heiß.
Da draußen war jemand. Irgendwer stand vor der Tür und warf im Licht der Außenlampe einen schwarzen Schatten.
43
Das Kopfsteinpflaster glänzte vom Regen, der gefallen sein musste, während sie zu Abend gegessen hatten. Wisting fühlte sich berauscht vom Bier und vom hochprozentigen Schnaps, den sie zum Dessert bekommen hatten,
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