Winterfest
und sagte zu Martin Ahlberg, dass er ein wenig frische Luft schnappen wolle, bevor er ins Hotel zurückkehrte.
Die Abenddunkelheit hatte die Straßen verändert, hatte sie mit Tempo, Gelächter und pulsierender Musik erfüllt, die aus den weit geöffneten Türen der Lokale strömte. Die Stimmung wurde lebhafter und Wisting ärgerte sich, dass er ein Zimmer zur lauten Straße hinaus bekommen hatte.
Das Bild war voller Kontraste. Gut gekleidete Männer und stark geschminkte Frauen in dünner Garderobe hasteten an ihm vorbei. Auf den Bürgersteigen saßen Bettler und hielten hoffnungsvoll Ausschau nach einer freundlichen Seele.
Ein Mann ohne Hände und Beine saß festgezurrt auf einer Art Rollbrett. Irgendwie schaffte er es, sich mithilfe von zwei Stöcken vorwärts zu schieben.
»Help me, Sir!«, bat er. »Help me! No food! No home!« Das schmale Gesicht verzog sich zu einer inständig flehenden Grimasse.
Wisting schüttelte den Kopf und vergrub die Hände tief in den Taschen. Er eilte vorbei, nicht ohne schlechtes Gewissen, und bog in eine schmale Seitenstraße, in der die Neonlichter etwas greller waren.
Eine junge Frau, die allein unter einer Straßenlaterne stand, sandte ihm prüfende Blicke. Sie war auf eine brutale Art schön. Gekleidet in Lederjacke, enge Jeans und hohe Schnürstiefel. Sie war vielleicht gerade einmal neunzehn oder zwanzig.
»I might help you«, sagte sie in stockendem Englisch und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Ihre Augen waren dunkelblau und glitten unkontrolliert hin und her. Wisting sah, dass Träume darin lagen. Von einem anderen Leben als der Armut, die sie hinaus auf die Straße trieb.
»Ich glaube nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Bist du nicht allein?«, fragte sie und wiederholte ihr Angebot.
Ihre Hand glitt seinen Arm hinauf und berührte sein Gesicht. Diese schlichte Geste löste eine unfreiwillige Reaktion in ihm aus und er blieb stehen. Er zitterte am ganzen Körper. Noch nie war er von einer so jungen und verlockenden Frau auf diese Art berührt worden.
»Woher bist du?«, fragte sie.
»Norwegen«, antwortete er.
»Ich kann mit dir aufs Hotelzimmer gehen«, sagte sie und lächelte hoffnungsvoll.
»Sorry«, erwiderte Wisting.
Er räusperte sich, machte ihr klar, dass er nicht an dem interessiert war, was sie verkaufte, und ging weiter.
Ein halbwüchsiger Junge in schmutzigen Kleidern kam auf ihn zu und streckte ihm ein Tablett mit Bernsteinschmuck entgegen.
»Present for your lady at home«, bot er an.
Die Auswahl bestand aus Halsketten, Armbändern und Ohrschmuck aus versteinertem Harz. Wistings Blick fiel auf eine Kette mit einem polierten herzförmigen Anhänger aus klarem, dunkelrotem Bernstein.
Der junge Verkäufer sah, dass Wisting zögerte, und packte ihn am Arm. »Very nice price«, versicherte er.
»How much?«
»Two hundred Litas.«
Vierhundertfünfzig norwegische Kronen, rechnete Wisting rasch aus. Er schüttelte den Kopf und wollte weitergehen.
»Please, Mister«, bat der Junge und griff nach dem Schmuckstück. »Tell me your price.«
Soweit Wisting beurteilen konnte, war es eine schöne Handarbeit. »One hundred«, sagte er.
Der Junge machte ein Gesicht, als wäre er beleidigt worden, schlug aber rasch vor, er könne auf einhundertfünfzig heruntergehen.
Wisting blieb bei seinem Angebot, willigte aber ein, als der Verkäufer um einhundertzwanzig Litas bat.
Er besaß nur einen großen Schein, und der Junge hatte Schwierigkeiten, darauf herauszugeben. Er diskutierte lange mit einem anderen Straßenhändler, der hinzukam, und Wisting füchtete schon, er würde überhaupt kein Geld zurückbekommen. Schließlich gab der Junge ihm einen Haufen Scheine heraus und Wisting nahm sie entgegen, ohne nachzuzählen.
Gleichzeitig bemerkte er ein kleines Mädchen, das fast mit der dunklen Hauswand verschmolz. Ermuntert durch den kleinen Gewinn des Schmuckverkäufers trat sie ein paar Schritte hervor und hielt einen Korb mit Strickpuppen hoch. Sie war ungefähr acht und hatte ein hübsches Gesicht. Es war beinahe halb zwölf Uhr nachts.
Wisting winkte sie zu sich und das Mädchen reichte ihm den Korb mit einer ängstlichen Geste, während sie mit dünner Stimme etwas auf Litauisch sagte.
Wisting hatte die Hände voller kleiner Geldscheine, suchte aber stattdessen einen neuen, großen Schein heraus und gab ihn ihr, bevor er eine der Puppen aus dem Korb nahm. Die Kleine suchte in ihren Taschen nach Wechselgeld, aber Wisting gab ihr zu
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