Winterfest
an und ging hinaus.
Das Meer war ruhig und rollte weich an den Strand. Die Luft war klar. Zwei Fischkutter waren unterwegs zum Skagerrak, ihre Masten zeichneten sich als spitze Silhouetten vor dem Horizont ab.
Line folgte dem Pfad in westlicher Richtung durch den dichten Niederwald. Der durchweichte Waldboden federte unter ihren Füßen. Mit jedem Schritt sanken ihre Gummistiefel tiefer ein.
Sie erreichte das Meer an derselben Stelle wie beim letzten Mal. Die Wellen schlugen rhythmisch an den Strand unter ihr. Zerzauste, krumme Kiefern ragten über die Klippe. In den Felsspalten wuchsen karge Strandblumen.
Sie hob die Kamera und fand den versteckten Unterschlupf durch den Sucher. Lange blieb sie so stehen und wartete auf eine Bewegung. Schließlich wurden ihr die Arme müde und sie senkte die Kamera wieder.
Da sah sie ihn.
Er stand auf einem Felsen unten am Meer und spähte schräg über den steinigen Strand. Er stand etwas abgewandt, halb mit dem Rücken zu ihr, und sie konnte nicht erkennen, wie er aussah, nur dass er einen Dreitagebart trug, der Wangen, Kinn und Hals bedeckte.
Line machte ein paar Aufnahmen und ging wieder im Dickicht in Deckung. Einige schwarze Krähen flogen aus den Baumkronen um sie herum auf. Sie schrien und flatterten durch das Blätterwerk, ehe sie sich ein Stück entfernt niederließen.
Ein Trampelpfad führte Line durch den federnden Moosteppich in Richtung des Mannes. Unmittelbar bevor der Waldboden in Felsen überging, blieb sie stehen, damit er sie nicht entdeckte.
Sie spähte in die Richtung, wo er gestanden hatte, sah ihn aber nicht mehr.
Sie trat aus dem Wald und scheuchte ein paar Vögel auf. Die Sonne wärmte jetzt gut und ließ die Dünen dampfen.
Eine enge Schlucht führte von dem Plateau hinab, auf dem sie stand. Sie drückte mit einer Hand die Kamera an die Brust und stützte sich mit der anderen an der Felswand ab, während sie hinunterstieg. Danach kletterte sie den Berg hinauf, auf dem der Mann gestanden hatte. Sie konnte ihn nirgends entdecken und spähte in die Richtung, in die der Mann geblickt hatte.
Die Wogen erhoben sich aus der glatten See und brandeten auf den Kieselstrand. Landeinwärts stand der dichte, beinahe graue Niederwald. Der Wind hatte die herbstgelben Blätter abgerissen und nur noch die nackten dünnen Zweige ragten in den Himmel.
Während sie dort stand, flog ein dichter schwarzer Vogelschwarm auf. Er musste hundert Mal größer sein als der, den sie vor ein paar Tagen gesehen hatte. Die Vögel sammelten sich zu einem riesigen ovalen Ball und stiegen als schwarze Wolke in den Himmel. Das Rauschen der vielen tausend Flügelschläge übertönte die Meeresbrandung. Ein flirrender Schatten des mächtigen Schwarms glitt über die Landschaft. Das Ganze war wie ein riesiger fliegender Teppich, der sich wand und wölbte.
Der Schwarm bewegte sich aufs Meer hinaus. Line merkte, wie es kalt um sie herum wurde, als die Vögel die Sonne verdeckten.
Dann teilte sich der Schwarm in zwei keilförmige Gruppen, die Kurs landeinwärts nahmen. Die Sonne kam wieder hervor, und ebenso plötzlich, wie die Vögel aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder, als sie sich auf den Bäumen an Land niederließen. Nur das Rauschen der Flügelschläge echote noch in den Ohren. Erst jetzt hob sie die Kamera, aber es war zu spät, um das spektakuläre Schauspiel zu verewigen.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte eine Stimme hinter ihr.
Line fuhr erschrocken herum.
Der Mann, den sie gesucht hatte, stand zwei Meter von ihr entfernt. Er musste hinter einem Vorsprung am Rand der Felswand gestanden haben und hatte sich ihr unbemerkt genähert.
Das Fernglas hing ihm um den Hals. In den Händen hielt er einen Fotoapparat, den er gerade gesenkt hatte. Seine Augen waren weit aufgerissen, er schien begeistert zu sein, dass er dieses Erlebnis mit jemandem teilen konnte.
Line nickte. »Ja, das war toll.«
Der Mann schaute immer noch in die Richtung, in die die Vögel verschwunden waren. »Ich habe auf so etwas viele Tage gewartet, aber das war mehr, als ich erhofft hatte.«
Er ließ die Kamera sinken und hob das Fernglas an die Augen.
»Da ist er«, sagte er plötzlich und ließ das Fernglas los, um auf einen großen Falken oder Adler zu zeigen, der mit den Flügeln wippte, um die Luftströmung zu nutzen.
»Die Vögel sammeln sich hier, um nach Futter zu suchen, bevor sie weiterziehen«, fuhr er fort. »Dann sind sie besonders anfällig für Angriffe von Raubvögeln. Deshalb
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