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Winterfest

Winterfest

Titel: Winterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jørn Lier Horst
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großes, graues Boot mit Aluminiumrumpf und großen aufblasbaren Schwimmkörpern entlang der Reling. Sie wusste, dass die Polizei nach dem Leichenfund in Thomas R ø nningens Hütte die Gegend mit Hubschraubern und Hunden abgesucht hatte, aber nicht, dass dabei Boote zum Einsatz gekommen waren. Dann hätten sie vermutlich das Ruderboot mit der Leiche darin entdeckt, das nicht weit entfernt an Land getrieben war. Das Boot auf dem Foto war außerdem weder mit einer Registriernummer noch mit einer Nationalitätsangabe gekennzeichnet.
    Sie versuchte, das Gesicht des Mannes an der Steuerkonsole zu erkennen, aber auf dem winzigen Display waren die Details zu klein.
    »Ich glaube nicht, dass er ein Polizist oder so was ist«, sagte sie.
    »Nicht? Was denn dann?«
    Line zuckte die Schultern. »Mein Vater ist bei der Polizei«, sagte sie. »Ich könnte ihm das Foto schicken.«
    Der Mann nahm die Kamera wieder an sich, als wollte er ungern etwas aus der Hand geben, was wertvoll für ihn war.
    »Sie könnten mit mir zur Hütte kommen«, schlug Line vor. »Dann können Sie sich bei einem heißen Kaffee auf wärmen, während ich das Foto auf meinen Computer ziehe.«
    Der Mann strich sich wieder über den Bart, lächelte und nickte.

49
    »In Dänemark nennen sie es ›schwarze Sonne‹«, rief Gunnar Hystad vom Fenster herüber.
    Line gab fünf Löffel Kaffee in den Filter.
    »Was denn?«, fragte sie zurück und füllte Wasser in die Maschine.
    »Wenn Tausende von Vögeln im Schwarm fliegen, sodass sie den Himmel wie bei einer Sonnenfinsternis verdunkeln. In Westjütland ist das jedes Frühjahr und jeden Herbst eine Touristenattraktion.«
    »Waren Sie dort?«
    »Schon oft.«
    Die Kaffeemaschine begann zu arbeiten. Line ging in die Stube und öffnete ihren Laptop auf dem niedrigen Couchtisch.
    »Kann ich die Speicherkarte haben?«, fragte sie.
    »Natürlich.« Hystad öffnete die Kamera, nahm die Speicherkarte heraus und gab sie ihr.
    Sie steckte sie in den Laptop, der einige Zeit brauchte, um die Thumbnails zu laden. Dann wählte sie insgesamt elf Fotos von dem Boot und kopierte sie auf ihren Laptop. Als sie die Speicherkarte wieder entnahm, war der Kaffee fertig.
    Sie füllte zwei Tassen und reichte eine ihrem Gast, der auf dem Sofa Platz genommen hatte.
    »Was halten Sie von den toten Vögeln?«, fragte sie und wölbte die Hände um ihre Tasse.
    Hystad blinzelte durch den Dampf, der aus seiner Tasse aufstieg. »Tote Vögel werden vom Himmel fallen«, sagte er, als zitierte er aus einem Buch. Dann lachte er.
    »Ist es nicht das, was die Weltuntergangspropheten sagen? Dass es das erste Anzeichen dafür ist, dass das Ende naht?«
    Er schüttelte den Kopf. »In dem Schwarm, den wir heute gesehen haben, waren hunderttausend Vögel. Da machen hundert tote Tiere nur ein Promille aus. Es sterben andauernd irgendwelche Vögel.«
    »Aber was könnte sie umgebracht haben?«
    »Wenn der Seeadler auf Beutejagd in den Schwarm hineinstößt, kann er nur mit seinen Flügelschlägen schon ein Dutzend töten. Andere werden panisch und fliegen vielleicht gegen einen Baum, oder sie sterben schlicht und einfach an Erschöpfung. Vögel geraten schnell in Stress.«
    »Ich habe zwei draußen auf der Treppe gefunden«, sagte Line und nickte zur Tür. »Das letzte Mal, dass ich einen toten Vogel gefunden habe, ist zehn Jahre her, und der war damals zu Hause gegen ein Fenster geflogen.«
    »Es kann auch sein, dass irgendeine Krankheit schuld ist, oder Gift«, meinte der Vogelkundler. »Einige der Vögel könnten irgendwas gefressen haben, was sie nicht vertragen. Die Leute sind so gedankenlos. Vieles von dem, was in die Vogelhäuschen gelegt wird, ist geradezu gefährlich. Reste von fettem Essen, das Durchfall verursacht und dazu führt, dass die Tiere keine Nahrung aufnehmen können. Dann sterben sie innerhalb von ein, zwei Tagen.«
    Sie unterhielten sich noch eine weitere halbe Stunde über Vögel, dann stand Gunnar Hystad auf, bedankte sich für den Kaffee und verabschiedete sich.
    Kaum war er aus der Tür, setzte Line sich an ihren Laptop und holte eines der Fotos aus der Kamera des Vogelkundlers auf den Bildschirm.
    Die Auflösung war gut. Sie konnte das Gesicht des Mannes in dem Boot enorm vergrößern, ohne dass die Qualität schlechter wurde. Er stand leicht vorgebeugt und mit grimmigem Gesichtsausdruck an der Steuerkonsole. Seine Augen waren hinter einer dunklen Pilotenbrille verborgen, die Haare zerzaust vom Wind und verklebt vom

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