Winterfest
fliegen sie im Schwarm, ungefähr wie ein Heringsschwarm auf der Flucht. Sie wechseln immer wieder die Richtung, um den Feind zu narren.«
»Unglaublich, wie sie das schaffen«, kommentierte Line.
»Vögel haben ein im Verhältnis zum Körper großes Gehirn«, erklärte der Mann. »Der Abstand zwischen Augen und Gehirn ist klein. Die elektrischen Impulse, die ausgesendet werden, sind blitzschnell. Für uns sieht es so aus, als wenn der gesamte Schwarm gleichzeitig umschwenkt, wenn ein Vogel auf die Bewegung seines Nachbarn reagiert. Sie haben ein unfassbares Reaktionsvermögen.«
Line betrachtete den Mann, der offenbar ein überaus enthusiastischer Ornithologe war. Dann streckte sie die Hand aus und stellte sich vor.
»Ja, natürlich«, sagte der andere und bestätigte, dass er der Mann war, dem der schmutzige Lieferwagen gehörte: »Gunnar Hystad.«
»Sie interessieren sich für Vögel, wie ich merke.«
Er lächelte sie an. »Das war schon immer mein Hobby, aber in diesem Sommer bin ich in Frührente gegangen. Dadurch habe ich jetzt mehr Zeit. In der letzten Woche habe ich hier draußen beinahe gewohnt.«
»Haben Sie eine Hütte hier?«
»Nein, leider nicht. Ich hätte gerne eine, vor allen Dingen jetzt in der Hauptzugzeit. Die Fluglinien führen direkt über dieses Gebiet hier.«
Line versuchte, das Gespräch zu steuern. »Aber Sie haben hier draußen übernachtet?«
»Manchmal schlafe ich hinten im Auto und ansonsten in dem Unterschlupf, den ich mir gebaut habe. Ich bin gestern Nachmittag gekommen. Der Wetterbericht sagte Hochdruck und Wind aus West-Nordwest voraus. Das sind optimale Zugbedingungen und ich war schon im Morgengrauen unterwegs. Jetzt warte ich nur noch auf die Ringeltauben. Innerhalb weniger Morgenstunden können mehrere Zehntausend von ihnen in direkter Linie hier über uns hinwegziehen.«
Line schaute zum Himmel. Ein paar Möwen kreisten über ihren Köpfen, ansonsten war der Himmel leer.
Gunnar Hystad hob wieder das Fernglas an die Augen und stand eine Weile so da, ehe er es absetzte. »Was ist mit Ihnen?«, fragte er. »Was hat Sie in die Herbstkälte hinausgetrieben?«
»Ich wohne da drüben in einer Hütte«, erklärte Line. »Ich versuche, ein Buch zu schreiben.«
Sie stiegen zusammen vom Felsplateau herab.
»Na, dann passt es ja gut, ein bisschen isoliert zu sein«, sagte der Mann und sprang von einem Felsblock zum nächsten. »Hier draußen sind nicht viele Leute zu sehen.«
»Ich habe Sie an dem Tag gesehen, als ich angekommen bin, ansonsten bin ich hier niemandem begegnet«, stimmte Line zu.
»Wann sind Sie gekommen?«
»Am Samstag.«
Gunnar Hystad nickte und strich sich mit der Hand über den Kinnbart. »Genau. Das war nach der ganzen Aufregung drüben bei Gusland. Haben Sie das mitgekiegt?«
Line nickte und überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, dass sie die zweite Leiche gefunden hatte, ließ es dann aber sein.
»Da war hier ganz schön was los am Strand. Eins der Boote hat den ganzen Samstag hier gelegen. Sie sind den ganzen Tag über immer hin und her gefahren und haben die Vögel draußen bei Måkeskæra aufgescheucht. Keine Ahnung, wonach die gesucht haben.«
Der Mann sah sich aufmerksam um, während er sprach. Er hob plötzlich die Kamera, offenbar hatte er etwas entdeckt, aber es war zu spät, um es mit der Linse einzufangen.
»Wir haben einen Seeadler hier draußen«, erklärte er. »Das ist selten. Normalerweise brüten sie nicht so weit im Süden. Es ist ein ausgewachsenes Weibchen. Die Flügelspannweite beträgt fast zweieinhalb Meter.«
Er blieb stehen.
»Ich kann es Ihnen zeigen«, sagte er und hob die Kamera.
Verschiedene Vögel glitten in rascher Folge über das Display, ehe er bei einem Adler stoppte, der majestätisch am Himmel schwebte.
»Ich habe auch eine Serie geschossen, in der er einen Fisch fängt«, sagte der Mann und klickte weiter.
Die Bilder, die vor Lines Augen vorbeizogen, zeigten für einen kurzen Moment ein anderes Motiv. Ein großes Schlauchboot mit Metallbügel und ein Mann an Bord füllten das Display aus, bevor wieder der Seeadler erschien.
»Was war das?«, fragte Line.
»Was denn?«
»Das Boot.«
Der Mann blätterte zurück.
»Das war das Boot, von dem ich gesprochen habe. Das ist das ganze Wochenende immer auf und ab gefahren. Der Bootsführer hat die ganze Zeit an Land gestarrt. Es war offensichtlich, dass er etwas oder jemanden gesucht hat.«
Line griff nach der Kamera und studierte das Foto. Es zeigte ein
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