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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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seulement.«
Nur für eine Nacht.
    Ohne mein Gesicht aus den Augen zu lassen, rief er über die Schulter in die Stille des Korridors hinter ihm:
»Madame Galy, viens ici!«
    Aus dem Halbdunkel des Ganges tauchte eine stämmige Frau mittleren Alters auf, deren hölzerne Sabots auf dem Fliesenboden klapperten. Ihr angegrautes Haar war in der Mitte gescheitelt, straff nach hinten gezogen und zu einem Zopf geflochten. Das verlieh ihr ein etwas strenges Aussehen, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass sie mit Ausnahme einer weißen Schürze von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war. Auch ihre dicken Wollstrümpfe, die unter dem Saum des wadenlangen Rockes hervorlugten, waren schwarz. Doch als ich in ihr Gesicht blickte, sah ich, dass sie eine ehrliche, offene Miene und sanfte braune Augen hatte. Ich lächelte, und sie lächelte warmherzig zurück.
    Galy forderte mich mit einer Geste auf, alles noch einmal zu erklären. Wieder begann ich, die Litanei der Missgeschicke aufzuzählen, die mich nach Nulle geführt hatten. Die Jäger ließ ich unerwähnt.
    Zu meiner Erleichterung schien Madame Galy mich zu verstehen. Nach einem kurzen und raschen Wortwechsel mit ihrem Mann in einem breiten Dialekt, der so unverständlich war, dass ich nicht folgen konnte, sagte sie, dass sie natürlich ein Zimmer für mich hätten. Außerdem, so fügte sie hinzu, würde sie mir morgen jemanden besorgen, der mich in die Berge begleiten würde, um mein Automobil zu bergen.
    »Gibt es niemanden, der mir sofort helfen könnte?«, fragte ich.
    Mit einem Achselzucken deutete sie über meine Schulter: »Dafür ist es zu spät.«
    Ich wandte mich um und sah zu meinem Erstaunen, dass das letzte Tageslicht in den wenigen Minuten, die unser Gespräch gedauert hatte, von der Dämmerung verschluckt worden war. Ich wollte schon etwas dazu bemerken, als Madame Galy weiter erklärte, just an diesem Tag im Dezember finde außerdem die wichtigste Feierlichkeit des Jahres statt,
la fête de Saint-Étienne
, die seit dem vierzehnten Jahrhundert gefeiert werde. Ich begriff nicht jedes Wort, das sie sagte, meinte aber eine Entschuldigung dafür zu verstehen, dass alle Dorfbewohner mit den Vorbereitungen des abendlichen Festes beschäftigt waren.
    »Il n’y a personne pour vous aider, Monsieur.«
    Ich lächelte. »Wenn das so ist, dann eben morgen.«
    Und ich fühlte mich beruhigt. Offenbar war das der Grund für die seltsame gedämpfte Ruhe im Dorf, der Grund, warum alle Läden geschlossen waren, der Grund für die altertümlichen
flambeaux
auf dem Platz.
    Madame Galy winkte mir, ihr zu folgen, und klapperte den Korridor entlang. Monsieur Galy schloss die Haustür und verriegelte sie hinter uns. Als ich einen Blick über die Schulter warf, stand er noch immer mit finsterer Miene da, die Arme lose herabhängend. Er schien nicht glücklich über das Auftauchen eines unerwarteten Gastes, aber davon wollte ich mich nicht stören lassen. Ich war hier. Und ich würde bleiben.
    An der Wand befand sich ein Schalter für elektrisches Licht, doch in den Deckenlampen fehlten Glühbirnen. Stattdessen erhellten Öllampen den Gang, deren kleine Flammen von geschwungenen Glasschirmen verstärkt wurden.
    »Haben Sie keinen Strom?«
    »Die Versorgung klappt nicht immer, vor allem im Winter. Da fällt er immer wieder aus.«
    »Aber es gibt doch wohl heißes Wasser?«, fragte ich. Jetzt, da ich der Kälte entronnen war, konnte ich mir eingestehen, wie erledigt ich war. Meine Oberschenkel und Waden schmerzten von der Wanderung bergab ins Dorf, und ich war bis auf die Knochen durchgefroren. Ein langes heißes Bad war mein sehnlichster Wunsch.
    »Aber ja. Dafür haben wir einen Ölofen.«
    Wir gingen weiter den langen Korridor hinunter. Ich blickte kurz in Zimmer, deren Türen offen standen. Alle waren leer. Es waren keine Gespräche zu hören, keine Bediensteten zu sehen, die ihren Pflichten nachkamen.
    »Haben Sie noch viele andere Gäste?«
    »Zurzeit nicht.«
    Ich wartete auf weitere Erklärungen, aber es kamen keine, und trotz meiner Neugier hakte ich nicht nach.
    Madame Galy blieb vor einem Holzpult am Fuße der Treppe stehen. Ich nahm den Geruch von Bienenwachspolitur wahr, eine eindringliche Erinnerung an die Stiege, die zu meinem Kinderzimmer unter dem Dach hinaufführte und die für kleine Jungen auf Socken so gefährlich war.
    »S’il vous plaît.«
    Sie schob mir ein altes Gästebuch hin. Ledereinband, dickes cremefarbenes Papier mit schmaler zartblauer

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