Wintergeister
Dann, hinter einer kahlen Baumreihe, Anzeichen von Leben. Rauchschleier kringelten sich hoch in die Luft.
»Gott sei Dank!«, seufzte ich wieder.
Das Dorf lag in einer Senke, auf allen Seiten von hohen Gipfeln umringt. Dächer mit roten Ziegeln, graue Schornsteine aus Granit und in der Mitte, alle anderen Häuser überragend, der Turm einer Kirche. Ich beschleunigte meine Schritte, behielt den Glockenturm als Orientierungspunkt im Auge. Schon stellte ich mir das behagliche Geplapper vor, das aus Cafés und Bars drang, das Klappern von Geschirr in den Küchen, den Klang menschlicher Stimmen.
Am Rand einer Wiese war eine Brücke. Ich hielt darauf zu, und als ich sie überquerte, stellte ich verwundert fest, dass darunter ein Bach floss. Ich hatte geglaubt, die Wasserläufe und Flüsschen in dieser Höhe wären von November bis März zugefroren. Doch das Wasser strömte munter dahin, plätscherte gegen die Brückenpfeiler und sprudelte über die Uferböschungen. Ich hörte das dünne Schlagen der Kirchenglocke, ein klagender einsamer Ton, der durch die Luft schwebte.
Eins, zwei, drei …
Ich war erstaunt, dass so wenig Zeit vergangen war, seit ich den Wagen auf der Straße zurückgelassen hatte. Aber ich wusste natürlich, dass unsere Erlebnisse sich dem Zeitraum anpassen, der ihnen zufällt. Gut vorstellbar, dass der Schock und das garstige Wetter mein Zeitgefühl durcheinandergebracht hatten.
Ich lauschte, bis die Glocke verklang, dann trat ich von der Brücke und ging weiter quer über die Wiese. Hier schien der Herbst seinen Einfluss auf das Land noch nicht vollends abgetreten zu haben. Statt des öden Grau und Weiß des Bergpasses waren hier noch die Rot- und Kupfertöne von Laub auf dem Boden zu sehen. In den Hecken bemerkte ich kleine Farbtupfen, blaue und rosafarbene und gelbe Blumen, wie Konfetti, das nach einer Hochzeit verstreut vor einer Kirche herumliegt. Mir fielen sogar Ginsterbüsche und hochgewachsene Mohnblumen auf. Leuchtend rot wie Blutstropfen vor dem Hintergrund der weiß gefrorenen Spitzen der grünen Grashalme.
Am Ende der Wiese kam ein Feldweg, breit genug für einen Karren oder ein Automobil. Er war rutschig, und ein ums andere Mal glitten meine Stiefel fast unter mir weg, doch ich fiel nicht hin.
Schließlich gelangte ich zu einem kleinen hölzernen Ortsschild, das mir verriet, dass ich Nulle erreicht hatte. Ich zögerte, blickte über die Schulter zurück auf die hohen Berge mit ihrem Umhang aus Bäumen, die sich fast senkrecht in den Winterhimmel reckten. Plötzlich widerstrebte es mir, sie zurückzulassen. Der Gedanke, eine Unterkunft zu suchen, meine missliche Lage erneut erklären zu müssen, die Mühe, die erforderlich wäre, um die Bergung meines Wagens zu organisieren, all das erschien mir ungeheuer beschwerlich.
Und da war noch etwas. In den vergangenen fünf Jahren habe ich oftmals über diesen Moment nachgedacht, und noch immer ist mir unklar, wieso ich instinktiv wusste, dass über diesem Dorf gleichsam eine Wolke hing, eine Art Traurigkeit. Dass etwas nicht stimmte, aus dem Lot war wie ein schiefes Bild.
Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte es mir nicht leisten, überkritisch zu sein. Ich war unterkühlt und müde. Wenn ich erst eine Unterkunft gefunden hätte, bliebe mir noch genug Zeit, die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen. Ich stopfte die Hände tiefer in die Taschen und betrat das Dorf.
Das Dorf Nulle
D as Unwetter war offensichtlich über das Tal hinweggefegt und hatte es unberührt gelassen, denn auf der Straße oder den Dachziegeln war keine Spur von Schnee.
Ich ging langsam, versuchte mir ein Bild von dem Ort zu machen. Ich kam an einer Handvoll niedriger Gebäude vorbei, die wie Läden aussahen oder Ställe. Entlang der Regenrinnen war Tropfwasser zu eisigen Dolchen gefroren, die spitz auf die harte Erde unter ihnen zeigten. Ungeachtet der fürchterlichen Kälte wirkte das Dorf seltsam verlassen. Keine Jungen, die von Lieferkarren Milch und Butter verkauften. Kein Postauto. Durch den Spalt zwischen halb geöffneten Fensterläden fielen dünne Lichtstreifen, in denen bisweilen schemenhafte Bewegungen zu erkennen waren, aber draußen war keine Menschenseele unterwegs.
Einmal meinte ich, hinter mir Schritte zu hören, aber als ich mich umwandte, war die Straße leer. Andere Laute gab es kaum – das Bellen eines Hundes und ein eigenartiges, wiederkehrendes Geräusch, als würde Holz über das Kopfsteinpflaster rattern – und wurden ebenso
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