Wintergeister
Erleichterung darüber, dass er es endlich bis hierher geschafft hatte, vielleicht aber auch, weil er am Ende seiner Reise angelangt war.
Freddie nahm seinen Hut ab, zog die Handschuhe aus und legte sie auf die lange Holztheke. Dann griff er in die Tasche seines Jacketts und holte das kleine Kuvert heraus.
»Hallo?«, rief er erneut. »Monsieur Saurat?«
Er hörte Schritte, dann quietschte eine kleine Tür weiter hinten im Laden, und ein Mann kam herein. Das Erste, was Freddie von ihm wahrnahm, war seine Körperfülle: Fleischwülste an Hals und Handgelenken, ein glattes, faltenloses Gesicht unter buschigem weißem Haar. Er sah ganz und gar nicht so aus, wie Freddie sich einen Mittelalterexperten vorgestellt hatte.
»Monsieur Saurat?«
Der Mann nickte. Zurückhaltend, gelangweilt, desinteressiert an einem Laufkunden.
»Ich bräuchte Hilfe bei einer Übersetzung«, sagte Freddie. »Mir wurde gesagt, Sie könnten dafür der Richtige sein.«
Ohne Saurat aus den Augen zu lassen, zog Freddie den Brief behutsam aus dem Kuvert. Er war aus einem dicken Material, das die Farbe schmutziger Kreide hatte, keinesfalls Papier, sondern etwas viel Älteres. Die Handschrift war ungleichmäßig und krakelig.
Saurat richtete seinen Blick darauf. Freddie beobachtete, wie seine Augen scharf wurden, erst vor Überraschung, dann Verwunderung. Dann Gier.
»Darf ich?«
»Bitte sehr.«
Saurat fischte eine Lesebrille aus seiner Brusttasche und setzte sie sich auf die Nasenspitze. Unter der Theke holte er ein Paar dünne Leinenhandschuhe hervor und zog sie über. Er fasste den Brief sacht zwischen Daumen und Zeigefinger an einer Ecke und hob ihn ins Licht.
»Pergament. Wahrscheinlich spätes Mittelalter.«
»Ganz genau.«
»In Okzitanisch verfasst, der alten Sprache dieser Gegend.«
»Ja.« Das alles wusste Freddie bereits.
Saurat warf ihm einen forschenden Blick zu, richtete dann die Augen wieder auf den Brief. Tiefes Luftholen, schließlich begann er, die Anfangszeilen laut zu lesen. Seine Stimme war erstaunlich hell.
»Knochen und Schatten und Staub. Ich bin die Letzte. Die anderen sind in die Dunkelheit entschwunden. Jetzt, am Ende meiner Tage, umfängt mich in der stillen Luft nur der Widerhall der Erinnerung an diejenigen, die ich einst liebte. Einsamkeit, Schweigen. Peyre sant …«
Saurat hielt inne und starrte den zurückhaltenden Engländer nun interessiert an. Der sah nicht aus wie ein Sammler, aber man konnte ja nie wissen. Er räusperte sich. »Darf ich fragen, woher Sie das haben, Monsieur …?«
»Watson.« Freddie zückte seine Visitenkarte und legte sie mit einem leisen Geräusch auf die Theke zwischen ihnen. »Frederick Watson.«
»Ist Ihnen bewusst, dass es sich hier um ein Dokument von historischer Bedeutung handelt?«
»Für mich ist seine Bedeutung rein persönlicher Natur.«
»Mag ja sein, aber dennoch …« Saurat zuckte die Achseln. »Befindet es sich schon länger im Besitz Ihrer Familie?«
Freddie zögerte. »Können wir uns hier irgendwo in Ruhe unterhalten?«
»Selbstverständlich.« Saurat deutete auf einen niedrigen Kartenspieltisch und vier Ledersessel in einer Nische im hinteren Teil des Ladens. »Bitte sehr!«
Freddie nahm den Brief, setzte sich und sah zu, wie Saurat sich noch einmal bückte, aber diesmal, um zwei dicke Gläser und eine Flasche mit samtigem, goldbraunem Brandy unter der Theke hervorzuholen. Für einen so beleibten Mann bewegt er sich ungewöhnlich elegant, sogar anmutig, dachte Freddie. Saurat schenkte ihnen beiden großzügig ein und ließ sich dann in dem Sessel gegenüber nieder. Das Leder ächzte unter seinem Gewicht.
»Also, werden Sie ihn mir übersetzen?«
»Selbstverständlich. Aber mich würde trotzdem brennend interessieren, wie Sie in den Besitz eines solchen Dokumentes gekommen sind.«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Saurat zuckte wieder die Achseln. »Ich habe Zeit.«
Freddie beugte sich vor und strich mit seinen langen Fingern über die Tischplatte, hinterließ Muster auf dem grünen Filztuch.
»Verraten Sie mir eines, Saurat, glauben Sie an Geister?«
Ein Lächeln stahl sich über die Lippen des Mannes. »Ich höre.«
Freddie atmete vernehmbar aus, ob vor Erleichterung oder wegen eines anderen Gefühls, war schwer zu sagen. »Also gut«, sagte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Die Geschichte beginnt vor fast fünf Jahren, nicht allzu weit von hier entfernt.«
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ARIÈGE
Dezember 1928
Tarascon-sur-Ariège
A n einem
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