Wintergeister
den schweren Tweedstoff zwischen den Fingern. Noch immer feucht, aber schon fast wieder tragbar. Mein Pullover hing mit baumelnden Ärmeln auf einer tieferen Sprosse, und meine Socken trockneten vor dem Kamin auf dem Boden, die Zehen, wo die Wolle am dicksten war, den Flammen am nächsten. Mantel, Mütze und Stiefel waren nirgends zu sehen, ebenso wenig wie mein Hemd. Ich vermutete, dass Madame Galy es eingeweicht hatte, um die Blutflecken am Kragen zu entfernen.
Sie hatte Wort gehalten und mir Ersatzkleidung hingelegt, oder eher ein Kostüm. Ich nahm eine Art Kittel oder Tunika aus grober Baumwolle vom Bett und schmunzelte. Die Ärmel reichten nur bis zu den Ellbogen, das Gewand war kragenlos und hatte am Hals keine Knöpfe, sondern Bänder. Ein ganz ähnliches Kleidungsstück hatte ich einmal bei einer schrecklich missratenen Schulaufführung des »Sommernachtstraums« getragen.
In der Zeit nach Kriegsende und ehe meine Nerven mich im Stich ließen, hatte ich in London einige Kostümbälle besucht. Es hatte mir jedes Mal Spaß gemacht. Ich genoss die Anonymität, die eine Verkleidung verschafft, und für ein paar Stunden so zu tun, als wäre man ein Held der Geschichte oder eines Romans. Ein Shackleton oder ein Quatermain.
Noch immer waren meinen Muskeln steif von dem Unfall, daher streifte ich mir die Tunika recht vorsichtig über die Schultern und trat dann zurück, um mich im Spiegel zu betrachten. Ich war gekleidet wie ein Bauer, und das Haar stand mir kreuz und quer vom Kopf ab, so wie die Natur es wollte. Mit MrRider Haggards Helden konnte ich mich wahrhaftig nicht vergleichen, aber ich war doch ganz zufrieden mit mir.
Als ich genauer hinschaute, spürte ich, wie sich etwas in mir bewegte, denn trotz der Risse und Sprünge in dem geschliffenen Glas starrte mich aus dem Spiegel eine Person an, von der ich geglaubt hatte, dass ich sie nie wiedersehen würde. Ich selbst. Oder besser gesagt, die Person, die ich hätte sein können, wenn mich nicht Trauer übermannt hätte. Die Furchen, die Verlust und Krankheit hinterlassen hatten, waren noch da. Ich war zu blass und dünn, das war nicht zu bestreiten, und meine grünen Augen glänzten vielleicht etwas zu hell. Aber die Gesichtszüge waren vertraut. Mein altes Ich drang langsam an die Oberfläche. Freddie Watson, jüngster Sohn von George und Anne Watson, Crossways Lodge, Lavant, Sussex.
Ich betrachtete mich noch eine Weile, zufrieden mit mir selbst, bis meine nackten Füße vor Kälte anfingen zu schmerzen. Dann zog ich mich rasch fertig an. Madame Galy hatte mir keine zur Tunika passende Hose hingelegt, daher nahm ich an, dass ich meine eigene tragen sollte. Die Aufschläge waren noch immer feucht, aber es würde gehen. Ich zog die Hose an, knöpfte sie zu und ließ mich dann auf die unebene Matratze fallen, um die Schuhe zu inspizieren, die ich anstelle meiner Stiefel tragen sollte.
Ich drehte und wendete sie im Lichtschein der Öllampe. Auch sie wirkten wie eine Theaterrequisite. Weiche Lederstiefel ohne Absatz oder irgendeine Art von Verschluss. Sie belebten erneut meine Erinnerungen. Der Besuch einer Aufführung von »Peter Pan« im Lyric Theatre mit Mutter und George zu Weihnachten. Der Nachmittag war mir im Gedächtnis haften geblieben, weil es so selten vorkam, dass sie etwas mit uns unternahm. In der Pause aßen wir Götterspeise, und Mutter, deren pfirsichzarter Teint im gedämpften Licht des Theaters besonders hübsch aussah, schaute sich das Publikum und die neueste Mode an. Noch monatelang danach zitierten George und ich Peter Pans bekannten Satz, dass Sterben ein »schrecklich großes Abenteuer« sei, was wir jedes Mal lustig fanden.
Ich blickte hinunter auf die Schuhe in meiner Hand. Sie waren genau wie die, die der Junge getragen hatte, der Peter Pan spielte. Im Geist hörte ich George, der mich hänselte, weil ich auch nur in Erwägung zog, solches Schuhwerk zu tragen.
»Ein Schritt zu weit, altes Haus, ein Schritt zu weit«, hätte er gesagt. Ich konnte förmlich den trockenen Humor hören, den Tonfall seiner Stimme. Seine Worte knufften mich in die Rippen.
»Ein Schritt zu weit, nicht schlecht«, sagte ich. »Gar nicht schlecht.«
Ich spürte, wir mir das Lächeln entglitt. In Wahrheit stammten diese Worte von mir, nicht von George. Ich hätte ihn so gern mit mir reden gehört, in seiner leisen trockenen Art, dem typischen Absenken der Stimme am Ende jedes Satzes, dem charmanten, verschmitzten Ton, irgendwo zwischen Langeweile und
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