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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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trüben Novemberabend, nur wenige Tage vor meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag, bestieg ich den Zug, der mich zur Fähre nach Calais bringen würde.
    Ich hatte keine Bindungen mehr in England, und meine Gesundheit war damals stark angegriffen. Ich hatte einige Zeit in einem Sanatorium verbracht und dann versucht, einen Beruf, eine Berufung im Leben zu finden. Eine kurze Anstellung als Sekretär im Büro eines Kirchenarchitekten, ein Monat als Kommissionär, nichts war von Dauer gewesen. Ich war nicht für die Arbeit geschaffen und sie offenbar nicht für mich. Nach einer besonders heftigen Grippeerkrankung meinte mein Arzt, eine Reise zu den Burgen und Ruinen der Region Ariège würde meinen angegriffenen Nerven guttun. Die reine Bergluft könnte meine Gesundheit wiederherstellen, nachdem alles andere versagt hatte.
    Also brach ich auf, ohne eine bestimmte Reiseroute im Sinn zu haben. Mit dem Automobil allein auf dem Kontinent unterwegs fühlte ich mich nicht einsamer, als ich es in England gewesen war, umgeben von Bekannten und einigen wenigen mir noch verbliebenen Freunden, die nicht verstanden, warum ich nicht vergessen konnte. Schon seit einem Jahrzehnt ruhten die Waffen. Außerdem war mein Leiden wahrhaftig nicht einmalig. Jede Familie hatte im Krieg jemanden verloren, Väter und Onkel, Söhne, Ehemänner und Brüder. Das Leben ging weiter.
    Aber nicht für mich. Mit jedem grünen Sommer, der sich in einen kupferroten und goldenen Herbst verwandelte, fiel es mir schwerer statt leichter, mich mit dem Tod meines Bruders abzufinden. Ich weigerte mich zunehmend zu glauben, dass George wirklich tot war. Und obwohl ich sämtliche entsprechenden Gefühlszustände durchlief – Fassungslosigkeit, Verweigerung, Wut, Kummer –, hatte mich die Trauer noch immer fest im Griff. Ich verachtete dieses jämmerliche Geschöpf, zu dem ich geworden war, konnte aber irgendwie nichts daran ändern. Im Rückblick bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt die Absicht hatte, je zurückzukehren, als ich da auf dem schwankenden Schiff stand und zusah, wie die weißen Felsen von Dover hinter mir kleiner wurden.
    Aber der Tapetenwechsel tat mir gut. Nachdem ich die Städte und Dörfer im Norden, wo der Schlachtengeruch noch immer schwer in der Luft hing, hinter mir gelassen hatte, fühlte ich mich weniger in der Vergangenheit verhaftet als zuvor zu Hause. Hier in Frankreich war ich ein Fremder. Ich war nicht gezwungen, mich irgendwo einzufügen, und niemand erwartete das von mir. Keiner kannte mich, und ich kannte keinen. Es gab niemanden, den ich enttäuschen konnte. Und wenn ich auch nicht behaupten will, dass ich meine Umgebung genussvoll in mich aufnahm, so war ich doch tagsüber vollauf mit so alltäglichen Dingen beschäftigt wie essen und fahren und eine Übernachtungsmöglichkeit suchen.
    Nachts sah die Sache natürlich ganz anders aus.
    So kam es, dass ich einige Wochen später, am 15. Dezember, in Tarascon-sur-Ariège in den Ausläufern der Pyrenäen ankam. Es war später Nachmittag, und ich war ganz steif von der holprigen Fahrt über die einfachen Bergstraßen. Die Temperatur im Innern meiner kleinen Limousine war kaum höher als draußen. Mein Atem hatte die Fenster beschlagen lassen, und ich musste die Windschutzscheibe freiwischen.
    Ich gelangte im rosigen Licht des scheidenden Tages auf der Avenue de Foix in die kleine Stadt. In diesen Hochtälern geht die Sonne früh unter, und die Schatten in den schmalen Pflasterstraßen waren schon tief. Vor mir ragte hoch oben auf einer schwindelerregenden Felsnase ein schlanker Uhrenturm aus dem achtzehnten Jahrhundert in die Höhe wie ein Wächter, der den einsamen Reisenden begrüßte. Der Ort hatte von Anfang an etwas an sich – ein Gefühl des Zutrauens und der Selbstbehauptung –, das mich ansprach. Eine Ahnung von alten Werten, die neben den Ansprüchen des zwanzigsten Jahrhunderts fortbestanden.
    Durch die Fensterritzen drang der beißende und zugleich süße Duft von brennendem Holz und Harz ins Wageninnere. Ich sah flackernde Lichter in den kleinen Häusern, Kellner, die sich mit langen schwarzen Schürzen in einem Café zwischen den Tischen bewegten, und ich sehnte mich danach, dieser Welt anzugehören.
    Ich beschloss, hier zu übernachten. An der Kreuzung zum Pont Vieux musste ich jäh bremsen, um einem Radfahrer auszuweichen. Der Lichtkegel seiner Lampe hüpfte und schlingerte, weil er die Schlaglöcher in der Straße umkurvte. Während ich abwartete, bis er

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