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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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unruhig und konnte nicht schlafen. Die Schläge jener einzelnen Glocke markierten das Verstreichen der nächtlichen Stunden. Erst als der bleiche Morgen durch die Holzlatten der Fensterläden kroch, fiel ich endlich in einen tiefen und schweren Schlaf.
    Saurat, ich beschreibe Ihnen den Abend nicht etwa deshalb so detailliert, weil mir gerade diese Stadt besonders am Herzen gelegen hat. Es hätte genauso gut irgendein anderer Ort in dieser Ecke Südfrankreichs sein können. Aber es ist wichtig, jede alltägliche Minute zu schildern, damit Sie begreifen, dass an diesem Abend in Tarascon nichts darauf hindeutete, was danach kommen sollte. Ich schwankte zwischen Erinnerung und larmoyantem Selbstmitleid, was in jener Zeit mein Normalzustand war. An anderen Abenden war es mir schlechter ergangen, und es war mir auch besser ergangen. Ich bewohnte ein emotionales Niemandsland, in dem ich mich weder vor- noch zurückbewegte.
    Doch obgleich ich es noch nicht wusste, hatte die Wächterin in den Bergen mich schon im Visier. Sie war bereits da. Wartete auf mich.

Auf der Bergstraße nach Vicdessos
    W ährend der finstersten Tage meines Sanatoriumsaufenthaltes und während meiner Rekonvaleszenz zu Hause in Sussex war die Morgendämmerung die Tageszeit, die ich am meisten fürchtete. Zu so früher Stunde schien die Ödnis meiner Existenz am krassesten im Widerspruch zu der erwachenden Welt um mich herum zu stehen. Das Blau des Himmels, die silbrige Unterseite der Blätter an den Bäumen, die im Frühjahr zu neuem Leben erwachten, Schöllkraut und Wiesenkerbel am Wegesrand, alles schien meine düstere Stimmung zu verspotten.
    Rückblickend lag der Grund für meinen Zusammenbruch eindeutig auf der Hand, obwohl es damals nicht den Anschein hatte. Für die Menschen in meiner Umgebung, ganz gewiss für meine Eltern, war es eigenartig – fast schon geschmacklos –, dass ich mir bis zu meinem Zusammenbruch so lange Zeit gelassen hatte. Erst sechs Jahre nach Georges Tod gab mein bedrängter Geist den Kampf auf, doch in Wahrheit war der Verfall langsam vonstattengegangen.
    Wir waren in einem Restaurant nicht weit von Fortnum & Mason, um meinen einundzwanzigsten Geburtstag zu feiern. Ich kann mich noch an den Geschmack des 1915er Champagner Montebello auf der Zunge erinnern, zufällig derselbe Champagner, mit dem Fortnum in diesem Jahr die Everest-Expedition versorgt hatte. Doch während wir spröde schweigend dasaßen, Vater und Mutter und ich, war George ein Schatten an unserem Tisch. Seine Präsenz hatte uns zu einer Familie gemacht. Er war der Leim gewesen, der uns zusammenhielt. Ohne ihn waren wir drei Fremde, die sich nichts zu sagen hatten. Und nun saß ich da, der andere Sohn, trank Champagner und öffnete Geschenke, wohingegen George nie die Volljährigkeit erreicht hatte. Es war falsch.
    Völlig falsch.
    War ich jetzt, da ich länger gelebt hatte als George, der ältere Bruder? Hatten wir die Plätze getauscht? Derlei Gedanken wirbelten mir unablässig im Kopf herum und wurden immer hitziger. Die Kellner glitten in Schwarz und Weiß an uns vorbei. Der perlende Champagner kratzte mich in der Kehle. Besteckgeklapper zerrte an meinen Nerven.
    »Reiß dich zusammen, Frederick!«, zischte meine Mutter. »Tu wenigstens so, als würdest du dich amüsieren, auch wenn es nicht stimmt.«
    »Lass den Jungen in Ruhe!«, knurrte mein Vater, winkte aber ab, als uns eine zweite Flasche Montebello angeboten wurde.
    Ich musste immerzu an vergangene Geburtstage denken, an denen George mich zum Lachen gebracht, mir Geschenke überreicht und einen gewöhnlichen Tag in etwas Besonderes verwandelt hatte. Einen rot-weißen Kreisel, als ich fünf wurde. Pfeil und Bogen an meinem neunten Geburtstag. Sein letztes Geschenk an mich, eine Erstausgabe von Captain Scotts
The Voyage of the Discovery
, Bd. I, in blauem Pappeinband mit Prägedruck, im Dezember 1915 aus Frankreich geschickt, mit braunem Papier und Kordel verpackt.
    Das war zu viel. Die Erinnerung an das Buch. Nachdem ich sechs Jahre lang gegen die Wahrheit seines Todes angekämpft hatte, gab ich auf. Dort, in jenem Restaurant voller Plüsch und Samt, löste mein Verstand sich auf. Alles begann auseinanderzufallen. Ich erinnere mich, dass ich mein Champagnerglas vorsichtig, bedächtig vor mir auf den Tisch stellte, aber danach weiß ich fast nichts mehr. Weinte ich? Störte ich die versteinerten Ladys und Militärveteranen, indem ich die Stimme hob und die Augen rollte? Indem ich Porzellan

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