Wintergeister
abwenden.
Doch ich war zu langsam. Ich sah ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde narrten mich Schatten im schwindenden Licht oder meine unzuverlässigen Augen, und ich sah ihn auf den ausgetretenen alten Steinstufen direkt vor mir stehen. Ein jähes Glücksgefühl durchfuhr mich, und ich hob eine Hand, um zu winken. Wie in alten Zeiten.
»George?«
Sein Name fiel in die stille Luft. Dann spürte ich, wie sich mein Brustkorb ein wenig verengte, mit einem Knacken, das mich an den ausgeleierten Aufzugmechanismus unserer alten Standuhr erinnerte, und mein Arm sank mutlos herab.
Da war niemand. Und es würde nie jemand da sein.
Ich stopfte die Hände tief in die Taschen meines Mantels. Im selben Moment schlug die Glocke der
cloche-mur
vier Uhr, und der Klang verhallte in der klammen Luft. In Wahrheit fürchtete ich immer, ihn zu sehen, war aber tief betrübt, wenn er nicht kam. Wenn ich ihn sah, erfasste mich eine rauschhafte Freude, ein Hochgefühl, und für einen Moment konnte ich glauben, dass er noch lebte. Dass alles bloß ein dummer Irrtum gewesen war.
Dann kam die Erinnerung zurück, und mein verhärmtes Herz schnürte sich wieder fest zusammen.
»George«, flüsterte ich, wohl wissend, dass ich keine Antwort bekommen würde.
Ich sank auf den Sockel des Denkmals. Als ich mich ermattet gegen den Stein lehnte, war ich mir der Namen der Toten bewusst, deren Buchstaben gegen meinen Rücken drückten, als würden sie sich in meine Haut einprägen.
Das vertraute Bild einer Fotografie kam mir in den Sinn. Früher hatte es in einem Schildpattrahmen zu Hause auf der Anrichte gestanden. Jetzt lag es lose auf dem Grund meines Koffers. Es war im September 1914 aufgenommen worden und hatte die Sepiatönung der Vergangenheit. Mutter sitzt in der Mitte des Fotos, schön und unnahbar in ihrer hochgeschlossenen Bluse mit Brosche. Hinter ihr steht Vater auf der einen Seite und George auf der anderen, stolz in seiner Uniform. Das Abzeichen des Hosenbandordens und das seines Regiments, die Roussillon-Feder, glänzen an seiner Mütze. Captain George Watson, Royal Sussex Regiment, 39. Abteilung.
Ich sitze ein wenig abseits von diesem Tableau, ein linkischer Halbwüchsiger von dreizehn Jahren. Mein Haar liegt nicht ganz korrekt an. In dem Moment, als der Verschluss klickte, hat mich irgendetwas veranlasst, von der Kamera weg Richtung George zu schauen. Im Laufe der Jahre habe ich diese Fotografie wieder und wieder studiert, bemüht, den Ausdruck in meinen Augen zu deuten. Möchte ich von ihm beruhigt oder vielleicht bewundert werden? Oder zeige ich nur einen kindlich ohnmächtigen Zorn, weil ich gezwungen bin, bei einer solchen Farce mitzuwirken? Ich weiß es nicht. Sooft ich auch auf diesen vergilbten festgehaltenen Moment starre und mir das Hirn zermartere, was damals wohl in mir vorging, ich kann mich nicht erinnern.
Zwei Tage später wurde George zum 13. Bataillon nach Frankreich geschickt. Ich weiß noch, wie stolz Vater war, wie sehr Mutter damit prahlte und von welchem Grauen ich erfüllt war, einem lähmenden überwältigenden Grauen. Schon damals wusste ich, dass dieser Weg nicht zum Ruhm führen würde.
Wie lange saß ich auf dem steinernen Wintersitz in Tarascon, während die Kälte durch den schweren Stoff meines Mantels und meine Tweedhose drang? Zeit dehnt sich und schrumpft, bleibt nicht stehen, wenn wir es am meisten brauchen. Ich dachte an meine Eltern, kühl und desinteressiert. An George, an all jene, die gestorben waren, deren Konturen im Laufe der Jahre unschärfer wurden. Die schlichte Wahrheit war: Ich empfand mein Leben ebenso als Bürde wie die Tatsache, dass George tot war.
Rückblickend wird mir klar, dass mich all diese Emotionen gleichzeitig überfielen. Wahn und Hoffnung und Sehnsucht, eins folgte dem anderen auf dem Fuße wie eine Reihe umstürzender Dominosteine. Es war ja schließlich ein ausgetretener Pfad. Ein Jahrzehnt voller Trauer hinterlässt Spuren im Herzen.
Schließlich riss ich mich zusammen und ging weiter, dankbar für die Dunkelheit. Ich blieb eine Weile an der Kirche stehen und versuchte, den handschriftlichen Aushang, der an der Mauer befestigt war, zu entziffern, zwang mich, meine Konzentration auf die Worte zu richten. Anscheinend ging der Name – La Daurade – auf das Wort
daurado
in der Sprache der Einheimischen zurück, was »Goldene« oder »Vergoldete« bedeutete und sich auf eine Marienstatue bezog, die sich einst in der Kirche befunden hatte. Ich bemühte mich,
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