Wintergeister
einen Funken Interesse aufzubringen, wenigstens eingedenk meiner früheren kurzlebigen Anstellung im Büro eines Kirchenarchitekten. Doch in Wahrheit empfand ich gar nichts. Und meine Gedanken ließen sich nicht davon abhalten, zurück zu den Toten zu schweifen, die in der kalten Erde ruhten. Zerschmetterte Knochen und Dreck und Blut. Die Grabsteine und Gräber, die wilden, ungepflegten Bereiche dazwischen.
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte nicht von Bildern aus Georges letzten Stunden heimgesucht werden, Bildern von Stacheldraht, verknäuelten und eingeklemmten und zerfetzten Gliedmaßen. Ich wollte nicht das Donnern von Kanonen oder die Schreie von Männern und Pferden hören, die in einem Kugelhagel fielen oder in einer Gaswolke oder durch das jähe Wegbrechen des Bodens unter ihren Füßen.
Das Problem war, dass ich gleichzeitig zu viel und zu wenig wusste. Zehn Jahre lang hatte ich versucht, in Erfahrung zu bringen, was 1916 mit George passiert war, und verfügte doch nur über Vermutungen, was gewesen sein könnte. Dieses grässliche, brutale Wissen hatte mir nicht etwa geholfen, das Geschehene hinzunehmen und mich auf mein Leben zu besinnen, sondern es war mein Verderben geworden.
Wieder versuchte ich, mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich blickte nach oben auf die Schönheit der Kirche, die angenehme Symmetrie und die hübschen Steinverzierungen, und ich wünschte mir wie schon so oft, dass diese Fragmente der Geschichte noch die Kraft hätten, mich so zu bewegen, wie sie es einst getan hatten. Meine Finger, steif in den Lederhandschuhen, glitten zur Partitur von Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 3, die ich in einer Penguin-Ausgabe in der Manteltasche trug. Eine Investition von zwei Shilling und Sixpence, auch sie ein Versuch, mir in Erinnerung zu rufen, was mir einst so viel bedeutet hatte. Aber die Musik hatte wie alles andere ihren Zauber verloren. Vaughan Williams’ aufsteigende Kadenzen oder Elgars fallende Septime bewegten mich ebenso wenig wie der Anblick weißer Apfelblüten im März oder das leuchtende Gelb der Ginsterhecken im April oder ein Hauch Glockenblumen unter Bäumen im Mai. Nichts rührte mich an. Alles hatte an dem Tag seine Bedeutung verloren, als das Telegramm eintraf: Vermißt. Vermutlich gefallen .
Ich setzte meinen einsamen Rundgang fort, spazierte über die Place des Consuls, ungeachtet der Kälte, von der mir die Ohren weh taten. Hinter geschlossenen Fensterläden war gelegentlich Geschirrgeklapper zu hören, dann und wann der Fetzen eines Gesprächs oder das Knistern eines Radiogeräts. Doch überwiegend war ich allein und hörte nur den Klang meiner eigenen Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster.
Ich folgte einer gewundenen Treppe durch den alten Teil der Stadt und stieg zur Tour du Castella hinauf, dem schlanken Turm, den ich bemerkt hatte, als ich in Tarascon ankam. Von diesem Aussichtspunkt aus konnte ich die zeitlosen Gipfel der Pyrenäen sehen, die die Stadt wie ein steinerner Ring umgeben. Am Horizont war die Spitze des Roc de Sédour zu erkennen, dessen Schneekuppe gespenstisch weiß vor dem schwarzen Himmel leuchtete. Nach Süden hin die Schlucht des Vicdessos.
Im
quartier
Saint-Roch funkelten die Lichter des Château Piquemal wie die Illuminationen am Pier von Bognor Regis in Sussex. Die Avenue de Sabart wurde von Kleingärten und
cabanes
der Gemüsegärtner gesäumt, denen die Häuser, die im
quartier
de la Gare wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, den Platz streitig machten. Und in der Mündung des Tals, an der südlichen Spitze, duckten sich wie moderne Torwächter für den uralten Taktschlag der Berge die neuen Fabrikgebäude, lang und flach und kantig, die mich an die Gewächshäuser im ummauerten Garten meines Elternhauses erinnerten.
Weiße Rauchwolken quollen aus den Schornsteinen, durchsetzt mit gespenstischen Blau- oder Grün- oder Gelbtönen von den Metallen, die verbrannt wurden. Aluminium, Kobalt, Kupfer. Und die Luft roch brandig, der Geruch der Industrie. Der fortschreitenden Zeit.
Es war nicht möglich, die Tour du Castella zu betreten. Eine kleine Tür war vernagelt, und auf halber Höhe sah man ein blindes Fenster mit einem schwarzen Gitter davor. Rings um den Turm wucherte Unkraut. Der graue Stein war mit Moos und Flechten bewachsen.
Sein Standort jedoch war schon schwindelerregend genug. Der Boden um ihn herum fiel senkrecht ab. Es gab keine Absperrung, kein Geländer, nichts, was verhindern konnte, dass der unerschrockene Reisende,
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