Wintergeister
der sich bis hierher gewagt hatte, abrutschte oder einen tödlichen Fehltritt tat.
Als ich nach unten blickte, wurde mir plötzlich schwindelig, von der Kälte, dem schmalen Sims rings um den Turm. Dem Gefühl der Endlosigkeit von Raum und Dämmerung. Einen Moment lang dachte ich, wie leicht es wäre, jetzt allem ein Ende zu machen. Die Augen zu schließen und hinaus in den sanften Himmel zu treten. Nur Luft zu spüren, während des Sturzes in die Tiefe, hinein in die schäumende Gischt der Ariège weit unter mir. Ich dachte an den Webley in meinem Handkoffer, versteckt unter meinem Shetlandpullover, ein Gegenstück zu Georges altem Armeerevolver. Ich hatte mich nicht dazu durchringen können, ihn zu benutzen.
Ich hatte die Waffe vor sechs Jahren in einem seltenen Moment der Entschlossenheit erstanden, kurz vor dem Nervenzusammenbruch, der mich für einige Monate in ein Sanatorium verbannte. Ich war im Londoner East End eine Gasse hinuntergeeilt, die aus einem Roman von Dickens hätte stammen können, so schwarz verrußt und abstoßend trostlos war sie, und ich war auf der Suche nach einer Adresse, die mir einer von Georges Offizierskameraden zugesteckt hatte. Simpson war ein zerstörter Mann, der sich allmählich zu Tode soff, weil er die Schande nicht ertrug, als Einziger zurückgekommen zu sein. Daher verstand er besser als die meisten, wie wichtig es ist, eine schnelle und einfache Lösung zur Hand zu haben, sollte die Last des Lebens unerträglich werden. Ich hatte gerade diesen Revolver gekauft, weil ich wusste, dass George auch so einen gehabt hatte, und eine Zeitlang hatte es mir Mut gegeben, ihn zu besitzen. Aber ich hatte gekniffen. Ich hatte die Waffe nie abgefeuert. Sie noch nicht mal geladen.
In dem Moment, als ich am Fuße des Turms oben auf der steilen Felsnase über Tarascon stand, spürte ich, wie mir das Blut in den Kopf rauschte bei dem Gedanken, dass der Augenblick vielleicht endlich da war. Euphorie angesichts der Möglichkeit einer entschlossenen Handlung. Der Möglichkeit, George zu folgen. Aber nur für einen Augenblick. Dann schlich sich wie jedes Mal der Impuls davon, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Ich trat vom Rand zurück. Spürte die Sicherheit des Steins in meinem Rücken, während ich die Hände flach gegen das Mauerwerk presste.
Etliche Minuten vergingen, bis sich vor meinen Augen nicht mehr alles drehte. Dann wandte ich mich um und stieg die breite, ausgetretene Treppe hinab, die vom Berg zu den Straßen führte. War es Mut oder Feigheit, was mich abhielt? Ich weiß es noch immer nicht. Selbst heute fällt es mir schwer, diese beiden Schwindler voneinander zu unterscheiden.
Später, als ich nach einem bescheidenen Dinner in dem Restaurant gegenüber von meinem Hotel keine Lust verspürte, mit meinen Gedanken allein zu sein, ging ich in eine Bar im Faubourg Sainte-Quitterie, in der Männer einen Fremden in ihrer Mitte duldeten, ohne Fragen zu stellen.
Mit rauher Stimme sprachen sie stolz über die Zukunft von Tarascon. Und als ich ein Glas auf das Wohl der Stadt erhob, verstand ich tatsächlich dieses Bedürfnis, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, zu vergessen. Ich verstand, dass die Welt mit klingendem Spiel weitermarschierte. Eine Industrie, die förmlich strotzte vor Selbstbewusstsein, versprach Reisenden und Einheimischen gleichermaßen, dass es nicht bloß schäbige Erinnerungen gab, sondern eine Zukunft, die man mit beiden Händen greifen konnte. Dass die zerstörten Landstriche Flanderns im Gedächtnis verblassen sollten. Ehret die Toten, ja. Erinnert euch, ja, aber blickt nach vorn. Jazz und junge Frauen mit Bubikopffrisuren und diese eleganten, künstlichen neuen Gebäude am Piccadilly. Tut so, als wäre es das alles wert gewesen!
Der Abend taumelte in einem Dunstschleier aus Rotwein und starkem Tabak dahin, und meiner Erinnerung nach versuchte ich, meinen Trinkfreunden davon zu erzählen, dass ich in zehn Jahren nicht gelernt hatte zu vergessen. Dass Leuchtreklamen und Verkehrsgewimmel nicht die Stimmen derjenigen überdecken konnten, die untergegangen waren. Dass die geliebten Toten immer da waren, am Rande des Blickfelds. Neben uns.
Doch dank meines Schulfranzösischs blieb ihnen meine Philosophiererei erspart, und außerdem ist Trauer trotz aller Rituale nun mal ein einsames Geschäft. Daher endete der Abend mit Händeschütteln und Schulterklopfen. Gesellschaft ja, aber herzlich wenig Gedankenaustausch.
Als ich endlich zu Bett ging, war ich
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