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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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vorbei war, wurde mein Blick von dem hellen Licht angezogen, das aus dem Fenster der
boulangerie
gegenüber fiel. Eine junge Verkäuferin, deren braunes Kraushaar unter einer Haube hervorquoll, griff in die Vitrine, um einen
Jésuite
oder vielleicht ein cremegefülltes
éclair
herauszunehmen.
    Viel Zeit ist seitdem vergangen, und das Gedächtnis bleibt ein trügerischer Freund, aber vor meinem geistigen Auge sehe ich sie noch immer einen Moment lang verharren, um mich dann schüchtern anzulächeln, ehe sie das Gebäck in einen Karton legt und ihn mit einer Schleife zubindet. Nur für einen Moment drang ein hauchzarter Lichtstrahl in die leere Kammer meines Herzens. Dann verschwand er wieder, ausgelöscht von der Last der Vergangenheit.
    Ich fand problemlos ein Zimmer im Grand Hôtel de la Poste, das immerhin über eine Garage verfügte, die die Gäste benutzen konnten. Mein gelber Austin Seven war zwar das einzige Automobil darin, doch es gab eine Tankstelle mit Werkstatt, die Garage Fontez, ein Stückchen weiter die Straße hinunter, und ich hatte irgendwie gleich das Gefühl, dass es mit Tarascon aufwärtsging. Das bestätigte sich, als ich mich ins Gästebuch eintrug. Der Inhaber des Hotels erzählte mir, dass nur wenige Wochen zuvor eine Aluminiumfabrik den Betrieb aufgenommen hatte. Sie würde, so seine Überzeugung, der Region Wohlstand verschaffen und den jungen Männern einen Grund bieten hierzubleiben.
    Die genauen Einzelheiten des Gesprächs sind mir entfallen. Damals hatte ich keinerlei Freude an zwangloser Plauderei. In über zehn Jahren der Trauer war meine Fähigkeit versiegt, mich mit anderen Menschen außer George zu beschäftigen. Er schritt an meiner Seite und war der Einzige, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Sonst brauchte ich niemanden.
    Doch an jenem Dezembernachmittag in dem kleinen Hotel erhaschte ich einen flüchtigen Eindruck davon, wie andere Menschen lebten, und ich bedauerte, dass es mir unmöglich war, wie sie zu sein. Noch heute erinnere ich mich an die Begeisterung des
patron
für das Projekt der Erneuerung, an seinen Optimismus und die Hoffnungen, die er für seine kleine Stadt hegte. Das alles stand im krassen Gegensatz zu meinem eigenen eingeschränkten Horizont. Wie immer in solchen Momenten fühlte ich mich mehr denn je als Außenseiter. Ich war erleichtert, als er mich, nachdem er mir mein Zimmer gezeigt hatte, allein ließ.
    Das Zimmer lag im ersten Stock, überblickte die Stadt und bot eine recht angenehme Aussicht. Ein großes Fenster mit frisch gestrichenen Läden, ein Einzelbett mit schwerer Tagesdecke, ein Waschtisch und ein Sessel. Schlicht, sauber, anonym. Die Bettwäsche fühlte sich kalt an. Wir passten zueinander, das Zimmer und ich.

La Tour du Castella
    I ch packte aus und wusch mir den Schmutz der Straße von Gesicht und Händen, dann setzte ich mich hin und rauchte eine Zigarette, während ich hinunter auf die Avenue de Foix schaute.
    Ich beschloss, vor dem Abendessen einen Rundgang durch die Stadt zu machen. Es war noch früh, aber die Temperatur war gefallen, und der Schuster und die
pharmacie
, die
boucherie
und die
mercerie
hatten bereits das Licht gelöscht und die Läden geschlossen. Eine Reihe von toten Augen, die nichts sahen, nichts preisgaben.
    Ich spazierte am Quai de l’Ariège entlang, zurück zu der Steinbrücke, die den Fluss an der Stelle überquert, wo der Vicdessos in ihn mündet. Dort blieb ich eine Weile in der Dämmerung stehen, dann ging ich weiter zum rechten Flussufer hinüber. Hier, so hatte man mir gesagt, befand sich der älteste und typischste Teil der Stadt, das
quartier
Mazel-Viel.
    Ich schlenderte durch einen hübschen Park, der jetzt im Winter trostlos wirkte und gut zu meiner Stimmung passte.
    Wie immer verweilte ich vor dem Denkmal zu Ehren der auf den Schlachtfeldern von Ypern und Mons und Verdun Gefallenen. Selbst in Tarascon, weit weg von den Schauplätzen des Krieges, standen so viele Namen in Stein gemeißelt. So schrecklich viele Namen.
    Direkt hinter dem Denkmal führte ein Korridor aus hageren Fichten und schwarzen Pinien zum schmiedeeisernen Friedhofstor. Über die hohe Mauer hinweg waren die steinernen Spitzen geschwungener Engelsflügel, christliche Kreuze und die Kuppeln einiger aufwendiger Grabstätten zu sehen. Ich zögerte, war versucht, den in der feuchten Erde Schlafenden einen Besuch abzustatten, widerstand aber dem Impuls. Ich hielt es für besser, mich nicht bei den Toten aufzuhalten. Ich wollte mich

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