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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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der Geschichte eine ganze Seite gewidmet. Natürlich waren seitdem erst wenige Tage vergangen, und aufgrund der Jahreszeit gestaltete es sich schwierig, die entsprechenden Leute in Toulouse zu erreichen – Archäologen, Pathologen, Heerscharen von Experten –, aber man ging davon aus, dass die Skelette rund sechshundert Jahre alt waren. Die in der Kammer gefundenen Gegenstände, Töpfe und anderer Hausrat, bestätigten das.
    Ich verstand ein wenig mehr. Keine Tragödie aus jüngerer Zeit, sondern eine sehr viel ältere Geschichte.
    Laut den in der Zeitung zitierten Experten hatte sich die Tragödie in den Höhlen höchstwahrscheinlich in der Zeit der Religionskriege im frühen vierzehnten Jahrhundert zugetragen. Lokale Historiker verwiesen auf ähnliche Ereignisse. Angehörige der letzten noch verbliebenen Katharergemeinden in der Region waren in den Höhlen eingemauert worden, in die sie sich geflüchtet hatten. In Lombrives beispielsweise. Niemand hatte geahnt, dass sich ganz in der Nähe etwas Ähnliches zugetragen hatte.
    »Breillac wusste es«, murmelte ich vor mich hin.
    Das ganze Dorf wusste es. Meine hübsche Krankenschwester, Madame und Monsieur Galy, sie alle waren im Schatten der tiefen Traurigkeit aufgewachsen, die das Dorf umfing. Sie rührte nicht bloß vom letzten Krieg her, sondern von all den Kriegen der vergangenen Jahrhunderte. Die derzeitigen und früheren Einwohner von Nulle wussten, wie abgründige Trauer den Geist zerfrisst.
    Aber während ich meinen Freunden lauschte, die ganz begeistert klangen, weil sie indirekt mit einem solchen geschichtlichen Geheimnis in Berührung gekommen waren, machte sich Erleichterung in mir breit. Denn obgleich nicht ich es war, der Fabrissas Leichnam nach Hause gebracht hatte, so hatte doch meine Erkundung der Höhle dafür gesorgt, dass alle, die vor so langer Zeit verschwunden waren, heimgeholt werden konnten. Jetzt war es möglich, die Toten zu identifizieren und zu bestatten.
    Meine Gedanken schweiften zurück zu Fabrissa. Sie hatte mich dorthin geführt, oder etwa nicht? Das blaue Aufblitzen vor dem Weiß der Berge? Und ganz sicher hatte ich sie einen vollkommenen und unmöglichen Augenblick lang in den Armen gehalten.
     
    Bis Heiligabend bekam ich keinen weiteren Besuch.
    Als die abendlichen Schatten über die akkuraten Bettreihen fielen und die Schwestern die Lampen im Saal entzündeten, tauchte eine Gestalt in der Tür auf. Breitschultrig, unsicher in der sterilen Umgebung.
    »Guillaume, kommen Sie näher!«
    Ich war ehrlich erfreut, ihn zu sehen. Er trat vorsichtig an mein Bett, die Mütze fest in den kräftigen roten Händen, und machte den Eindruck, als bereue er seinen Entschluss, mich zu besuchen. Er habe mir etwas zu sagen, erklärte er, etwas, das ihm keine Ruhe lasse. Es würde nicht lange dauern.
    »Nehmen Sie Platz!«
    Ich wollte mich aufsetzen, tat es aber wohl zu schnell, denn von der Bewegung wurde mir schwindelig, und ich sank in die Kissen zurück.
    »Soll ich jemanden holen?«
    »Nein, nein«, sagte ich. »Ich muss nur alles langsamer angehen, mehr nicht.«
    Er hockte sich schüchtern auf die äußerste Kante des Stuhls.
    »Sie wollten mir etwas sagen?«, fragte ich aufmunternd.
    Er nickte, konnte mir aber nicht in die Augen sehen und schien nicht zu wissen, wie er anfangen sollte.
    Schließlich beschloss ich, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Wie lange waren Sie an dem Tag unterwegs?«
    Die einfache Frage war genau der richtige Einstieg für ihn. Es habe drei Stunden gedauert, sagte er. Als sie mit dem Lastwagen aus Tarascon bei meinem Auto ankamen, war ich verschwunden. Sein Vater und Pierre dachten, ich sei nach Nulle zurückgekehrt, und befassten sich mit dem Auto. Er dagegen war sich da nicht so sicher gewesen, weil ihm wieder eingefallen war, welche Fragen ich ihm gestellt hatte. Er musste immerzu daran denken, wie ich über das Tal geblickt und mich nach einem Weg auf die andere Seite erkundigt hatte. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass ich dorthin aufgebrochen war.
    Gegen die Einwände seines Vaters überredete Guillaume den Mechaniker, erst noch nach Miglos zu fahren anstatt gleich zurück nach Tarascon. Dort stieg er von der Straße hinunter bis zu dem Plateau und entdeckte Fußabdrücke auf dem Bergpfad. Es war schon spät am Tag, und die Temperaturen lagen knapp über dem Gefrierpunkt, aber er war sich ganz sicher, dass es sich um meine Spuren handelte.
    »Leider konnte ich nicht erkennen, wohin

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