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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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gemacht«, sagte er schroff und stand auf. Die Stuhlbeine schabten über das Linoleum. Er war niemand, der viel Aufhebens um seinen Heldenmut macht, und jetzt, da er seine Pflicht getan hatte, wollte er möglichst schnell wieder gehen.
    Ich wusste, dass dem nicht so war. George hatte mir zwar von außerordentlichen Großtaten erzählt, deren Zeuge er geworden war, aber nicht jeder Mann hatte den Mut, sein Leben für einen anderen aufs Spiel zu setzen.
    »Ich muss los«, sagte er.
    »Es war sehr freundlich von Ihnen, dass Sie hergekommen sind. Falls Sie irgendwas brauchen, falls ich mich in irgendeiner Weise erkenntlich zeigen …«
    »Nein«, unterbrach er mich. »Mein Vater hat gesagt, ich soll Ihnen unseren Dank ausrichten. Er hat gesagt, Sie würden schon wissen, was er meint.«
    Ich stutzte, nickte dann. »Ja, ich glaube, ich weiß es«, sagte ich. »Grüßen Sie ihn von mir! Und Madame Galy bitte auch.«
    »Mach ich.«
    Er setzte seine Mütze auf und wandte sich zum Gehen.
    »Frohe Weihnachten, Guillaume!«
    »Ihnen auch, Monsieur.«
    Er blieb noch einmal kurz stehen, füllte mit seiner breitschultrigen Gestalt den Türrahmen, so dass weniger Licht vom Korridor hereinfiel. Dann war er fort.
    Ich hielt das Pergament nah ans Gesicht, zu aufgeregt, um es zu entfalten, obwohl ich wusste, dass ich die Zeilen nicht würde lesen können. Aber ich wusste, dass sie für mich bestimmt waren. Ein Brief von Fabrissa an mich. Nein, nicht an mich. Für wen auch immer, der die Stimmen in den Bergen hören und zu ihnen kommen sollte, um sie nach Hause zu bringen.
    Ich faltete das Blatt auseinander. Die Schrift war krakelig und unregelmäßig, Zeilen brachen ab, als wäre der Schreiberin die Tinte ausgegangen oder das Licht oder die Kraft. Noch immer konnte ich kein Wort vom nächsten unterscheiden, doch diesmal entdeckten meine müden Augen am unteren Rand ein Datum und drei Initialen: FDN .
    Stand F für Fabrissa? Ich wollte es glauben, keine Frage. Aber der Rest? Der würde warten müssen. Ich würde warten müssen.
    Ich lehnte mich zurück in die Kissen.
    Es gab keine rationale Erklärung für das alles. Fest stand nur, dass es geschehen war. Für einen Moment war ich zwischen die Risse in der Zeit gerutscht, und Fabrissa war zu mir gekommen. Ein Geist, ein Gespenst? Oder eine reale Frau, die aus ihrer eigenen Zeit in diesen kalten Dezember entrückt worden war? Es entzog sich meiner Vorstellungskraft, doch jetzt begriff ich, dass das unwichtig war. Nur die Konsequenzen waren wichtig. Sie hatte meine Hilfe gesucht, und ich hatte ihr geholfen.
    »Meine Geliebte«, sagte ich.
    Durch sie hatte ich meine eigenen Dämonen bezwungen. Sie hatte mich befreit und mir eine Zukunft eröffnet. Ich war nicht mehr auf ewig in jenem einen Augenblick gefangen, als die Uhren am 15. September 1916 stehen blieben. Ich erlebte nicht wieder und wieder jenen 11. November 1921, als ich es während der Gedenkfeier für das Royal Sussex Regiment in der Kathedrale von Chichester keine Sekunde länger ertragen konnte, nicht zu wissen, wo George gefallen war. Ich war nicht mehr dazu verdammt zuzusehen, wie sich der Champagner ergoss und vom Tisch eines teuren Restaurants am Piccadilly tropfte.
    Ich schloss die Augen. Um mich die Geräusche des Krankenhauses, das Quietschen von Rädern draußen auf dem Korridor und irgendwo, unsichtbar, der Klang von Stimmen, die Weihnachtslieder sangen.

[home]
    TOULOUSE
    April 1933
    Wieder in der Rue des Pénitents Gris
    U nd da bin ich nun«, sagte Freddie. »Es war mir nicht möglich, früher zu kommen.«
    Er hielt das dicke Brandyglas in einer Hand und lehnte sich im Sessel zurück. Saurat betrachtete ihn.
    Während ihres Gesprächs waren die Schatten länger geworden. Die spätnachmittägliche Sonne fiel durch das Metallgitter vor dem Fenster der Buchhandlung und warf rautenförmige Muster auf den Boden.
    Saurat räusperte sich. »Und die letzten fünf Jahre?«
    »Ich ging zurück nach England. Nicht sofort, aber als deutlich wurde, dass da nichts …« Freddie sprach den Satz nicht zu Ende. »Dann kam die große Wirtschaftskrise mit all ihren Folgen. Meine wenigen Anlagen und Aktien wurden über Nacht wertlos. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir irgendeine Arbeit zu suchen. Ich nahm eine Mietwohnung und fand eine Anstellung bei der Kriegsgräberkommission in London. Nichts Besonderes, aber ausreichend für meine Bedürfnisse.«
    »Ich verstehe.«
    »Am 1. Juli 1932 enthüllten wir in Thiepval das

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