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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Lumpen, die die Schwestern Maury getragen hatten. Dort ein undeutliches Überbleibsel des grauen Schleiers von Na Azéma, über ihr Gesicht gezogen. Keine Menschen mehr, sondern Skelette. Die Schädel halb verdeckt von einer Kapuze oder einem Stück Stoff oder von Schatten, während die Knochen im blassen Schein meiner Taschenlampe grünlich weiß schimmerten.
    Ich schluckte die Galle hinunter, die mir in die Kehle stieg, und ging weiter. Jetzt konnte ich erkennen, dass die Knochen gruppenweise zusammenlagen, wo ganze Familien gemeinsam gestorben waren. Wie viele Leichname lagen hier bestattet? Fünfzig? Einhundert? Noch mehr? War irgendwer dieser Hölle auf Erden entronnen? Fabrissa hatte gesagt, dass keiner herausgekommen war. Eine Zuflucht, die zum Grab wurde. Ein Massengrab für die Menschen von Nulle.
    Doch das Schlimmste kam erst noch. Das Flüstern wurde lauter, das Flehen, die Rufe nach jemandem, der ihnen Hilfe bringen konnte. Das Betteln um Erlösung. Und dazu gesellte sich nun ein anderes Geräusch, legte sich über das Flüstern. Ein Kratzen auf Stein. Das Klappern von Knochen auf dem rauhen, holprigen Boden. Ich wollte mich abwenden, konnte es aber nicht. Ich konnte nicht wegschauen, denn das hätte bedeutet, dass sie erneut verlassen wurden. Ich konnte meine Ohren nicht vor dem Grauen der Stimmen verschließen.
    Wider alle Vernunft betete ich, dass ich Fabrissa nicht finden würde, doch ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war. Der Klang ihrer Stimme in den Bergen, im Ostal, die Silben und Laute verschwommen und undeutlich, all das konnte nur eines bedeuten.
    Das Geräusch steigerte sich. Wurde kreischend, ein verzweifeltes Kratzen auf Felsen und Steinen, die sich nicht bewegen ließen. Nicht der Cers-Wind, sondern die Geister der Toten, wie der alte Breillac gesagt hatte. Ungezählte Jahre hatte das Dorf Nulle im Schatten der Erinnerungen gelebt, die diese alten Wälder bargen.
    Ich konnte Gestalten im Dunkeln ausmachen, sie bewegten sich, seufzten, umringten mich. Sie ließen mich nicht in Ruhe. Die ganze Höhle war in Bewegung. Weiße Schatten, Umrisse in der Luft, die Silhouetten der Seelen von Toten. Ich schlug die Hände vors Gesicht und wusste doch, dass das keinen Unterschied machen würde. Die dunkle Parade würde trotzdem weiter an mir vorbeiziehen. Ich hatte sie sterben gehört und war auch dazu verdammt, sie sterben zu sehen.
    Antlitze, in deren Augen eine schreckliche Schönheit lag, glitten in mein Gesichtsfeld und verschwanden wieder, kamen näher und wichen zurück. Diejenigen, die ich im Ostal getroffen hatte, begrüßten mich erneut. Vertraute Fremde. Der Mann, der mit finsterer Miene neben mir gesessen hatte. Jetzt drang sein Schädel an manchen Stellen durch die Haut. Anstelle seiner trunkenen Augen nun leere Höhlen von der Größe eines Männerdaumens. Anstelle seines fettverschmierten Mundes ausgezehrte Lippen und faulige Zähne. Das gütige Antlitz von Na Azéma, beinahe verwundert, weil ihre Gesichtszüge sich auflösten und nichts zurückließen als weiße Knochen und die Erinnerung an die, die sie einst war.
    Ich wusste, warum ich hierhergeführt worden war. Ich sollte nicht nur bezeugen, wie sie gestorben waren, sondern auch, welche Art von Gefängnis ich für mich selbst errichtet hatte.
    Ohne Verstehen kann es keine Erlösung geben. Und in dem Moment ergab es für mich absolut Sinn, dass ich, ein Mann, der so viele Jahre auf dem Grat zwischen den Lebenden und den Toten gewandelt war, fähig sein konnte, ihre Stimmen in der Stille zu hören, während andere das nicht vermochten. Zehn Jahre lang hatte ich Dinge gehört und gespürt, die außerhalb der alltäglichen Grenzen lagen. Ich war von Bildern verfolgt worden, wie George in die Erde gebettet wurde. Jetzt, an diesem Ort, wurde ich Zeuge, wie Haut von Knochen glitt, wie Fleisch verweste, wie sich die Kavalkade von Leben und Tod und Verfall beschleunigte. Gesichtszüge, die in sich zusammenfielen, verfaulten, einbrachen. Gelebte Leben, verlorene Leben. Von der Wiege zur Bahre.
    Es war zu viel, es war unerträglich. Ich registrierte ein anderes, nur allzu menschliches Geräusch. Das Schluchzen eines erwachsenen Mannes. Endlich weinte ich. Um George, um mich selbst. Um all die längst Vergessenen in der kalten Erde.
    Dann spürte ich es. Eine jähe Veränderung, eine Verdichtung der Luft. Ein Prickeln tief im Rücken und ein Nachlassen des Drucks auf meiner Brust. Sie waren noch bei mir, die Wintergeister, aber sie

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