Wintergeister
zogen sich in den Hintergrund zurück.
»Fabrissa?«
Ich hob den Kopf und blickte geradeaus. Ich nahm ganz kurz etwas wahr, kaum mehr als das Beben eines Schmetterlingsflügels. Ein Augenblick nicht der Erleuchtung, sondern der Gnade in einem Schwung wallenden schwarzen Haars und eines blassen Gesichts. Ich rappelte mich auf und machte zögerlich einen Schritt nach vorne. Sogleich verlor sich die Vision, verging, fiel in sich zusammen, kaum gesehen und schon verschwunden.
»Nein!« Mein Schrei gellte durch die Höhle. »Bleib!«
Ich ballte die linke Hand zur Faust, spürte, wie sich meine abgebrochenen Fingernägel in den zerkratzten Handteller bohrten. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie sie sich angefühlt hatte, so leicht, ihre Berührung, ihre hellen grauen Augen und die Lachfältchen um ihre Mundwinkel.
Ich tat einen weiteren Schritt auf die Stelle zu, wo sie gewesen war. Der schwächer werdende Strahl der Lampe fiel auf einen blauen Stoffrest auf dem Boden. Tiefblau, wie die Augenfarbe meines Bruders, die Flachsblüte auf den Feldern von Sussex im Juni. Genau dieselbe Farbe wie die des Kleids, das Fabrissa getragen hatte. Deutlich, zu deutlich sah ich gelbe Fäden dort, wo das Kreuz gewesen war.
Ich kniete mich neben sie, sehnte mich danach, die zarte weiße Haut unter meinen Fingern zu spüren. Doch da war nur die Härte von Knochen unter meiner Hand. Ich versuchte, Fabrissas Namen auszusprechen, sie zurück ins Leben zu holen, doch ich konnte es nicht.
Meine Rippen schienen sich zusammenzuziehen, schienen zu brechen. Und dann, endlich, hörte ich sie, betörend in der Dunkelheit, wie sie zu mir sprach, zu mir allein.
»Freddie …«
»Ich bin hier«, sagte ich, halb schluchzend, halb lachend. Ich wusste, dass sie mich hören konnte. »Ich habe Wort gehalten. Ich bin gekommen, um dich zu finden.«
Schloss ich sie in jenem Moment in die Arme? Unmöglich, denn ich wusste, dass sie Schatten und Staub war. Und doch habe ich eine Erinnerung, dass ich sie für einen kurzen Augenblick warm in meinen Armen spürte und dass ich seufzte. Ich war ihretwegen gekommen, und daher war sie zu mir zurückgekehrt. Um mich nach Hause zu bringen.
Ich merkte, dass ich tiefer in die Dunkelheit hineinglitt, die ich nun jedoch begrüßte. Und Fabrissa fing an zu reden, erzählte die Geschichte zu Ende, die sie begonnen hatte. Ich legte, während ich zuhörte, meinen Kopf in ihren Schoß, da bin ich mir ganz sicher, und war aufs Neue bezaubert von dem wunderbaren Heben und Senken ihrer Stimme, die das Ende der Legende von den Bergen und den Geistern, die sie bewohnen, erzählte.
Meine Augen schlossen sich langsam, eingelullt vom Rhythmus ihrer Worte, bis schließlich alles still war. Und in dieser Stille glitt sie davon. Ich spürte, wie sie ging. Ich schrie auf, doch ihr Geist, ihre Seele, ihr Abbild, was immer es war – was immer sie war –, blieb verschwunden. Und diesmal, das wusste ich, würde sie nicht zurückkehren.
Ich sank immer tiefer in die Besinnungslosigkeit. Ich wollte nicht erwachen. Als das Licht schwächer und schwächer wurde, dachte ich daran, wie damals bei der Weihnachtsaufführung im Lyric Theatre die Lampen im Zuschauersaal ausgingen und es mucksmäuschenstill wurde. Ich dachte an Niemals-Land und Peter Pan. An George und mich, wie wir Wackelpudding aßen und kicherten. Daran, dass wir jetzt beide klüger waren und wussten, dass Sterben niemals ein schrecklich großes Abenteuer war. Und dann lächelte ich bei dem Gedanken, dass ich George wiedersehen könnte und auch Fabrissa und dass dann alles gut wäre.
Doch plötzlich begann ich, mich zu wehren. Ich konnte nicht zu ihnen gehen, noch nicht. Der Gedanke war so schmerzlich wie ein Splitter in der Haut. Ich hatte Fabrissa zwar gefunden, aber ich hatte sie nicht nach Hause gebracht. Genau wie ich George nie nach Hause gebracht hatte.
»Fabrissa …«
Aber das Wort erstarb auf meinen Lippen. Ich sank durch die Dunkelheit hinab, tief hinein in die Eisschollen der Antarktis, in die undurchdringliche Stille. Die Stille am Ende aller Tage.
Das Krankenhaus in Foix
W eiße Gesichter, weiße Wände, weiße Bettwäsche.
Als ich zu mir kam, befand ich mich im Krankenhaus in Foix. Ich wusste nicht, welchen Tag wir hatten oder wie lange ich schon im Krankenhaus lag oder wie ich dorthin gekommen war. Ich sei zwei Tage bewusstlos gewesen, sagte man mir. Das Fieber, von dem ich törichterweise geglaubt hatte, es abgeschüttelt zu haben, war durch
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