Wintergeister
Sie von da aus gegangen waren, Monsieur, weil der Boden hart gefroren war, keine Erde, sondern Eis, auf dem kein Abdruck zu sehen war. Und Sie hätten in etliche Richtungen gegangen sein können. Ich hörte, wie mein Bruder von der Straße aus nach mir rief. Die anderen waren alle ungeduldig und meinten, es habe keinen Sinn, nach Ihnen zu suchen. Ich muss zugeben, mir kamen so langsam auch Zweifel. Das Licht wurde schwächer. Ich wusste, es war unklug weiterzusuchen. Aber ich wusste auch, falls Sie nicht nach Nulle zurückgekehrt waren, würden Sie die Nacht da draußen allein nicht überleben. Und dann sah ich …«
Guillaume stockte, und seine Wangen liefen rot an.
»Was, Guillaume?«, fragte ich drängend. »Was haben Sie gesehen?«
»Ich weiß es nicht genau, Monsieur. Jemanden. Ich schwöre bei meinem Leben, ich sah jemanden winken, um auf sich aufmerksam zu machen.«
Mir stockte das Herz. »Eine Frau?«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht sagen. Ich war zu weit weg. Ich sah bloß etwas Blaues aufleuchten, einen langen blauen Umhang. Ich dachte, dass Sie das vielleicht sind, Monsieur, dass Sie sich in Ihrem Auto umgezogen haben, ehe Sie sich auf den Weg machten.«
»Ich war das nicht.«
»Nein?«
»Nein.«
Guillaume blickte mich einen Moment lang unverwandt an, wobei in seinen ehrlichen Augen Zweifel aufflackerten, dann schaute er weg.
»Ich bin zu der Stelle hinaufgeklettert, wo ich Sie … die Gestalt … gesehen hatte, aber da war niemand. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Dann sah ich etwas auf der Erde, keine richtigen Fußabdrücke, aber Spuren, die zur Felswand führten. Als ich genauer hinsah, entdeckte ich unter einem Vorsprung versteckt eine Höhlenöffnung.«
»Gott sei Dank haben Sie die entdeckt, Guillaume«, stellte ich leise fest.
»Ich hab zu meinem Vater und zu Pierre hochgerufen, die …«
»Konnten die beiden Sie sehen?«
»Nein, sie waren zu weit weg. Und inzwischen war es fast ganz dunkel. Aber sie konnten mich hören. Es war sehr kalt, sehr still. Im Winter, wenn nur die immergrünen Pflanzen Blätter tragen, werden Klänge weit getragen.«
»Ja, ich verstehe.«
»Ich stieß auf den Schutt im Eingang, wo Sie ein Loch in die Wand gebrochen hatten, und folgte Ihnen runter in die Höhle und dann in die Kammer dahinter.« Er zögerte. »Mein Vater hat immer gesagt, aber …« Er fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Ich musste mich um Sie kümmern, Monsieur, musste überlegen, wie ich Sie aus der Höhle und zu einem Arzt schaffe. Sie waren bewusstlos, atmeten kaum. Ich konnte nicht über die anderen nachdenken. Nicht in dem Moment.« Er sah mir in die Augen. »Und Sie sind sicher, dass Sie nicht die Gestalt gewesen sein können, die ich gesehen hab?«
»Völlig sicher.«
»Es ist nur … Sie waren nämlich mit einem blauen Umhang zugedeckt. Irgendwie genau passend zu dem Kleid von … der Leiche der Frau. Die trug ein langes blaues Gewand, genau die Farbe, die … Sie lagen neben ihr.« Er stockte. »Es war dasselbe Blau wie bei … der Person, die mir gewinkt hat.«
Ich begriff, wo hier das Problem lag. Guillaume wollte nicht glauben, dass die alten, von Aberglauben durchdrungenen Geschichten seines Vaters wahr waren, und das konnte ich ihm nicht verübeln.
»Wahrscheinlich bloß eine optische Täuschung«, sagte ich.
Guillaume nickte. Ich hatte ihn nicht beruhigt, aber er war froh, dass die Sache geklärt und damit erledigt war. Er zog etwas aus der Tasche.
»Und da war noch das hier, Monsieur«, sagte er.
Er hielt mir das Blatt Pergament hin, das ich in der Höhle aufgehoben und dann vor lauter Entsetzen über das Massengrab ganz vergessen hatte.
»Sie haben es so fest in der Hand gehalten, dass ich mir dachte, es muss was Wichtiges sein.«
Er beugte sich vor und legte es neben mich aufs Bett. Das grobe Material hob sich gelb von der weißen Decke ab.
Dankbarkeit durchströmte mich. »Ich bin Ihnen sehr verbunden. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen.« Ich nahm das Blatt. »Haben Sie es gelesen?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist in der alten Sprache.«
»Okzitanisch, aber gewiss wären Sie …« Ich verstummte, weil mir der Gedanke kam, dass er vielleicht nicht lesen konnte und ich ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte. »Wenn Sie nicht nach mir gesucht hätten, Guillaume, tja … Ich verdanke Ihnen mein Leben.«
Und dir, Fabrissa, fügte ich lautlos hinzu. Und dir …
»Das hätte jeder andere genauso
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