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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Denkmal für die Gefallenen der Schlacht an der Somme. Das Regiment meines Bruders, die drei Southdowner Bataillone, hatten am Vortag der Schlacht einen Sturmangriff unternommen. Sie überrannten die deutschen Linien und hielten sie eine Zeitlang, mussten sich aber dann wieder zurückziehen. In weniger als fünf Stunden fielen siebzehn Offiziere und fast dreihundertfünfzig Männer aus Sussex. Am nächsten Tag begann die Hauptschlacht.«
    »Und seitdem?«
    »Ich bin viel unterwegs, hauptsächlich in Frankreich und Belgien. Ich gehöre zu der Gruppe von Männern, die für die Pflege von Grabsteinen und Opferkreuzen und Soldatenfriedhöfen zuständig sind.«
    »Damit niemand in Vergessenheit gerät.«
    »Wir halten die Erinnerung wach, damit sich so ein grausames Gemetzel nie wiederholt. George, Madame Galys Sohn, die Männer der Region Ariège, die Southdowners, wir dürfen sie nicht vergessen. All die gefallenen jungen Burschen.« Freddie verstummte. Das war weder der rechte Moment noch der rechte Ort für eine solche Rede.
    Er trank einen Schluck von seinem Brandy, stellte das schwere Glas dann behutsam auf den Tisch und schob das Blatt Pergament über das grüne Filztuch.
    Saurat hielt Freddies Blick einen Moment lang fest. Er sah weder gespannte Erwartung noch Furcht in seinen Augen, nur Entschlossenheit. Gleichgültig, was in dem Brief stand, so wurde ihm klar, es würde den Engländer nicht überraschen.
    »Sind Sie bereit?«
    Freddie schloss die Augen. »Ja, das bin ich.«
    Saurat rückte seine Brille auf der Nase zurecht und begann zu lesen.
    »Knochen und Schatten und Staub. Ich bin die Letzte. Die anderen sind in die Dunkelheit entschwunden. Jetzt, am Ende meiner Tage, umfängt mich in der stillen Luft nur der Widerhall der Erinnerung an diejenigen, die ich einst liebte.
    Einsamkeit, Schweigen. Peyre sant.
    Das Ende ist nah, und ich begrüße es, als wäre es ein trauter Freund, der lange fort war. Es war ein langsames Sterben, eingesperrt hier in dieser Falle. Ein Herz nach dem anderen hörte auf zu schlagen. Zuerst das meines Bruders, dann das meiner Mutter und meines Vaters. Nun ist mein flacher Atem das einzige noch vernehmbare Geräusch. Das, und das sanfte Tröpfeln des Wassers über die bemoosten Wände der Höhle. Als weinte der Berg selbst. Als würde auch er die Toten betrauern.
    Wir hörten sie, ihre Schritte, und wähnten uns in Sicherheit. Wir hörten, wie ein Stein nach dem anderen aufgehäuft wurde, hörten das Hämmern auf Holz und begriffen dennoch nicht, dass sie den Höhleneingang für immer verschlossen. Und diese unterirdische, nur von Kerzen und Fackeln erhellte Stadt, einst unsere Zuflucht, wurde unser Grab.
    Dies sind die letzten Worte, die ich je schreiben werde. Es kann nicht mehr lange dauern. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Meine letzte Kerze brennt herab. Dies ist mein Testament, das davon berichtet, wie Männer und Frauen und Kinder einst in diesem vergessenen Winkel der Welt lebten und starben. Ich schreibe es nieder, damit diejenigen, die nach uns kommen, die Wahrheit erfahren.
    Ich fürchte den Tod nicht. Aber ich fürchte das Vergessen. Ich fürchte, dass es niemanden geben wird, der unseres Ablebens gedenkt. Eines Tages wird uns jemand finden. Uns finden und nach Hause bringen. Denn wenn alles vorüber ist, bleiben nur noch Worte. Worte überdauern.
    Und ich werde eine letzte Wahrheit festhalten: Wir sind, wer wir sind, wegen derjenigen, die wir beschließen zu lieben, und wegen derjenigen, die uns lieben. Peyre sant, Gott der guten Geister, sei meiner Seele gnädig!
     
    Prima
    Im Jahre des Herrn 1329.«
    »Eines Tages wird uns jemand finden«, wiederholte Freddie.
    Saurat blickte ihn forschend über den Rand seiner Lesebrille an. Er wartete eine Weile, während die Worte in der Stille der Bücher auf den Regalen des engen kleinen Ladens verklangen.
    »Frühjahr
1329
«
, sagte er schließlich.
    Freddie öffnete die Augen. »Vor über sechshundert Jahren.«
    »Ja.«
    Die beiden Männer schauten einander lange an. Nur das Ticken der Uhr und das Tanzen der Staubflöckchen im schrägen Nachmittagslicht ließen erkennen, dass überhaupt Zeit verstrich.
    »Sind Sie noch mal in Nulle gewesen?«, fragte Saurat.
    »Allerdings. Mehrfach.«
    »Und?«
    Freddie lächelte. »Es hat sich verändert. Als wäre der Ort gesundet. Monsieur und Madame Galy sind noch immer dort, und ihre Pension läuft blendend.«
    »Kein Leben im Schatten mehr.«
    »Ganz und gar nicht. Nulle ist für

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