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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Urlauber, die in den Bergen südlich von Tarascon wandern wollen, zum beliebten Ausgangspunkt geworden. Guillaume Breillac kann gut davon leben. Die Gemeinde überlegt sogar, eine Drahtseilbahn zu bauen, mit der Besucher hinauf zu den Höhlen fahren können.«
    »Eine Touristenattraktion.«
    »In bescheidenem Maße. Nulle kann sich nicht mit Lombrives oder Niaux vergleichen, aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
    Freddie warf einen Blick auf das sonnenhelle Fenster und fragte sich, wie er das in den letzten Jahren unwillkürlich sehr häufig getan hatte, was Fabrissa wohl sagen würde, wenn sie sehen könnte, wie das Dorf wieder aufblühte.
    »Die Eckdaten der Geschichte sind zweifellos richtig«, sagte Saurat. »Anfang des vierzehnten Jahrhunderts wurden die letzten Katharergemeinden aufgespürt und vernichtet. In Lombrives fanden die Soldaten des Comte de Foix-Sabarthès, des späteren Henri IV ., über fünfhundert Tote, zweihundertfünfzig Jahre nachdem die armen Leute bei lebendigem Leibe in den Höhlen dort eingeschlossen worden waren.«
    Freddie nickte. »Ich habe davon gelesen.«
    »Und die Menschen, denen sie im Ostal begegnet sind – Guillaume Marty, Na Azéma, die Schwestern Maury, Authier –, sie tragen alle typische Katharernamen aus der Zeit. Fabrissa ebenso.«
    »Ja.«
    Saurat zögerte. »Dennoch, mir ist nicht klar, was Ihrer Meinung nach in jener Nacht geschehen ist.«
    Freddie blickte ihm in die Augen. »Wir sind moderne Menschen, Saurat. Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft und des rationalen Denkens. Und selbst wenn es uns nichts nützt, sind wir nicht gezwungen, wie unsere Vorfahren unter dem erdrückenden und abergläubischen Schatten von Religion und Unvernunft zu leben, von Dämonen und Rachegeistern. Wir wissen heute, dass die Psychologie nächtliche Schreckensbilder, Halluzinationen oder Stimmen im Dunkeln erklären kann. Wir sind uns bewusst, welche Schnippchen unsere Psyche uns zuweilen schlägt, unserem zarten, verletzlichen, beeinflussbaren, armseligen kleinen Verstand.« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr, wie oft man mir das in der Zeit meiner Krankheit erläutert hat.«
    »Wollen Sie damit sagen, die Ärzte haben recht?«
    Freddie lächelte. »Das ist nicht auszuschließen, Saurat, aber ich weiß, dass Fabrissa da war. Sie war da. Ich habe sie gesehen. Ich habe mit ihr gesprochen, sie in den Armen gehalten. Während ich in Nulle war und durch die trauernde Landschaft rings um das Dorf gewandert bin, war sie für mich so real, wie Sie es da in Ihrem Sessel sind.«
    »Und jetzt?«
    Freddie dachte einen Moment nach. »Es gibt Augenblicke intensiver Gefühle – Liebe, Tod, Trauer –, in denen wir in etwas anderes hineingleiten können. Ich glaube, die Zeit kann sich in solchen Momenten dehnen oder zusammenziehen oder überlappen, ohne dass die Wissenschaft dafür eine Erklärung parat hat. Vielleicht ist genau das geschehen, als ich den Unfall hatte und ohnmächtig wurde, vielleicht aber auch nicht.« Er zuckte wieder die Achseln. »Ich habe keinen Zweifel daran, dass eine Person wie Fabrissa einst in dem Dorf Nulle gelebt hat. Ich habe ebenfalls keinen Zweifel daran, dass sie mich irgendwie ausgewählt hat.«
    »Dann ist es also etwas Spirituelles?«, fragte Saurat und ließ den Blick über die Bücher in den Regalen gleiten. »Der Glaube daran, dass es mehr gibt als das hier?«
    »Wer kann das wissen? Im Leben geht es nicht darum, nach Antworten zu suchen, wie man uns das lehrt, sondern die Fragen zu finden, die wir stellen sollten.«
    Saurat blickte hinunter auf den uralten Brief, auf die Worte, die er für seinen englischen Besucher so gewissenhaft übersetzt hatte.
    »Warum haben Sie so lange gewartet?«
    »Ich musste erst bereit sein, es zu hören.«
    »Aha.«
    »Und einen Schlusspunkt zu setzen.«
    Saurat legte seine Brille auf den Tisch und rieb sich die Augen.
    »Vielleicht aber auch, weil Sie wussten, was drin stand? Ich hatte den Eindruck, es hat Sie nichts davon überrascht.«
    Wieder zuckte Freddie die Achseln. »›Wir sind, wer wir sind, wegen derjenigen, die wir beschließen zu lieben, und wegen derjenigen, die uns lieben.‹ Das hat Fabrissa geschrieben.« Er lächelte. »Man braucht keinen Übersetzer, um die Wahrheit dieser Worte zu erfassen.«
    Beide Männer schwiegen. In der Buchhandlung kündete das Ticken der Uhr weiter vom Verstreichen der Zeit. Draußen auf der Straße waren das Gellen einer Autohupe zu hören, eine Frau, die mit

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