Winterherzen
gerechnet. Sie wusste jedoch nicht, ob er enttäuscht oder nur verunsichert war.
Nachdem er ihr ein Nachthemd übergestreift und ein Kissen hinter den Rücken gesteckt hatte, setzte er sich zu ihr auf die Bettkante.
Ein Anflug von Belustigung ließ ihre Mundwinkel zucken. Sie kämpfte dagegen an, denn sie wusste, dass er nicht in humorvoller Stimmung war, aber sie vermochte ein zartes Lächeln nicht zu unterdrücken. „Mit dir geschlafen zu haben hat mich nicht zum Invalidengemacht. Ich hätte mich selbst ausziehen können.“
Er starrte sie finster an, sah die Zärtlichkeit in ihrem Lächeln und kam sich töricht vor. Deshalb behielt er die grimmige Miene bei. „Dann hast du mehr Glück als Verstand. Ich hätte dir wehtun können, ernsthaft wehtun. Verdammt, du hättest mir sagen sollen, dass es das erste Mal für dich war.“
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich ehrlich. „Ich wusste nicht, wie man in so einem Fall verfährt.“
Einen Moment lang drohte er zu explodieren. Wut blitzte in seinen Augen, doch er beherrschte sich eisern. Schließlich fuhr er sich heftig durch das zerzauste Haar. „Du bist dreiunddreißig Jahre alt. Wie kommt es, dass du noch Jungfrau warst?“, fragte er völlig verwirrt und verständnislos.
Verlegen wurde sie sich bewusst, wie wenig zeitgemäß sie war. Eine Generation zuvor wäre Keuschheit bis zur Hochzeit von ihr erwartet worden. Doch in der heutigen Zeit war sie eine altmodische Frau in einer fortschrittlichen Gesellschaft. Es lag nicht daran, dass es ihr an Neugier oder Sehnsüchten mangelte, und sie war auch nicht prüde. Doch zuerst hatte sie in irgendeiner flüchtigen, bedeutungslosen Beziehung nicht „alles“ geben wollen, und dann war sie Rome begegnet, und das hatte die Chancen jedes anderen Mannes vernichtet. Wenn sie ihn nicht haben konnte, wollte sie niemanden. Es war so einfach und doch so unmöglich zu erklären.
Sie versuchte nicht einmal, seine Frage zu beantworten. Sie blickte ihn nur stumm an, und das Leuchten in ihren Augen erlosch.
Plötzlich stiegen Schuldgefühle in ihm auf, als ihm bewusst wurde, dass der Treuebruch, den er mit anderen Frauen begangen hatte, nichts bedeutete im Vergleich dazu, wie er Diane soeben betrogen hatte. Sarah war nicht nur ein gesichtsloser Körper für ihn. Er begehrte sie wegen all der Qualitäten und Eigenarten, die ihre Persönlichkeit ausmachten. Darüber hinaus hatte er mit ihr ein überwältigendes Vergnügen erlebt, das sämtliche Gedanken an Diane ausgelöscht hatte, die ihn sonst stets quälten, wenn er mit einer Frau geschlafen hatte. Er hatte überhaupt nicht an Diane gedacht.Sarah hatte seinen Geist und seine Sinne ausgefüllt, und das war der größte Treuebruch.
Er musste fort von ihr. Er sprang auf, lief nervös im Raum umher, strich sich erneut durch das Haar. Er hatte geglaubt, dass sie das Geheimnisvolle verlieren und er nicht länger von ihr besessen sein würde, nachdem er sie – wie all die anderen Frauen in den vergangenen zwei Jahren – genommen hatte, doch das war nicht der Fall. Stattdessen hatte sie ein Geheimnis enthüllt, das sie noch geheimnisvoller machte, und sich dann wieder in sich selbst zurückgezogen.
Plötzlich konnte er es nicht länger ertragen. Er fühlte sich wie erstickt. „Hör mal, ist alles okay mit dir?“
Sarah zog eine schmale Augenbraue hoch. „Es geht mir gut.“ Sie klang kühl und völlig beherrscht, wie gewöhnlich.
„Ich muss raus hier“, brummte er. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich mich wie ein Schuft benehme, aber ich kann nicht …“ Er hielt inne und schüttelte den Kopf. „Ich rufe dich morgen an.“
Er war bereits an der Tür, bevor Sarah ihre Stimme wiederfand. „Das ist nicht nötig. Mir geht es wirklich gut.“
Er bedachte sie mit einem beinahe wilden Blick. Dann war er verschwunden, und ein paar Sekunden später hörte sie die Haustür ins Schloss fallen.
Die zarten Bande der Freundschaft, die sich zwischen ihnen entwickelt hatten, waren also zerstört durch einen flüchtigen Akt der Lust. Mehr bedeutete es ihm nicht, obwohl sie sich aus Liebe in seine Arme begeben hatte. Die Schuld und der Zorn in seinen Augen hatten ihr verraten, dass er an Diane dachte und die hingebungsvollen Momente auf dem Teppich bereute.
Sarah weinte nicht. Sie hatte gehofft, aber der Traum war so kurz gewesen, dass sie nicht richtig daran geglaubt hatte. Er war fort, und er hatte nie zu ihr gehört, nicht auf eine Weise, die zählte. Sie hatte weder
Weitere Kostenlose Bücher