Winterjournal (German Edition)
sie quer durch Amerika, um wieder ihrer Familie nahe zu sein – vor allem dir und deiner Frau, aber auch ihrer geisteskranken Tochter in Connecticut, ihrer Schwester und ihren zwei Enkelkindern. Natürlich war sie vollkommen pleite, was bedeutete, dass du sie unterstützen musstest, aber das war jetzt kaum ein Problem, und du warst mehr als bereit dazu. Du hast ihr ein Einzimmerapartment in Verona gekauft, ihr einen Mietwagen besorgt und ihr monatlich einen, wie ihr beide fandet, angemessenen Betrag überwiesen. Du warst bestimmt nicht der erste Sohn auf der Welt, der sich in dieser Lage wiederfand, aber das machte es kein bisschen weniger ungewohnt oder unangenehm: für den Menschen zu sorgen, der einmal für dich gesorgt hatte, jenen Punkt im Leben erreicht zu haben, an dem die Rollen vertauscht wurden, wo du jetzt die Rolle des Vaters übernahmst, während sie sich in die Rolle des hilflosen Kindes zu fügen hatte. Das Finanzielle führte gelegentlich zu Reibereien, da es deiner Mutter schwerfiel, mit ihrem Geld hauszuhalten, und selbst nachdem du ihr Taschengeld mehrmals erhöht hattest, fiel es ihr immer noch schwer, was dich in die peinliche Lage versetzte, ab und zu mit ihr schimpfen zu müssen, und einmal, als du wahrscheinlich ein wenig zu grob geworden warst, brach sie am Telefon in Tränen aus und sagte, sie sei ein nutzloses altes Weib, und vielleicht sei es das Beste, sie bringe sich um, dann müsstest du dich nicht mehr so mit ihr plagen. Dieser Erguss von Selbstmitleid hatte etwas Komisches (du wusstest, dass du manipuliert wurdest), zugleich aber wurde dir dabei ganz elend zumute, und am Ende hast du dich jedes Mal erweichen lassen und ihr alles gegeben, was sie haben wollte. Stärker hat dich ihre Unfähigkeit beunruhigt, irgendetwas zu tun, aus ihrer Wohnung zu gehen und die Welt an sich heranzulassen. Du hast ihr vorgeschlagen, ehrenamtlich als Nachhilfelehrerin für leseschwache Kinder oder Erwachsene tätig zu werden, sich für die Demokratische Partei oder irgendeine andere politische Organisation zu engagieren, Kurse zu machen, zu reisen, sich einem Verein anzuschließen, aber sie brachte es einfach nicht fertig, so etwas auch nur zu versuchen. Bis dahin hatte ihre fehlende Schulbildung sie von nichts abgehalten – ihre angeborene Klugheit und geistige Beweglichkeit hatten offenbar jegliches Defizit dieser Art ausgeglichen –, aber nun, da sie ohne Ehemann, ohne Arbeit, ohne etwas lebte, das sie Tag für Tag beschäftigte, wünschtest du, sie hätte irgendein Interesse an Musik oder Kunst oder Büchern entwickeln können, an irgendetwas, Hauptsache, es wäre ein leidenschaftliches, anhaltendes Interesse, aber solche inneren Bestrebungen waren noch nie ihre Sache gewesen, deshalb ruderte sie nur ziellos umher und wusste nichts mit sich anzufangen, wenn sie am Morgen aufwachte. Die einzigen Romane, die sie las, waren Krimis und Thriller; deine Bücher und die Bücher deiner Frau, die ihr beide ihr stets nach Erscheinen zukommen ließt – und die sie stolz auf einem besonderen Regal in ihrem Wohnzimmer zur Schau stellte –, zählten nicht zu der Art von Büchern, die sie lesen konnte. Sie sah sehr viel fern. Der Fernseher in ihrer Wohnung lief ständig, plärrte von frühmorgens bis spätabends, aber es ging ihr nicht um bestimmte Sendungen, die sie sehen wollte, sondern nur um die Stimmen, die aus dem Kasten kamen. Die Stimmen trösteten sie, sie konnte nicht auf sie verzichten, sie halfen ihr, die Angst vor dem Alleinsein zu überwinden – was vielleicht die größte Leistung deiner Mutter in diesen Jahren war. Nein, das waren nicht die besten Jahre, aber du möchtest nicht den Eindruck vermitteln, dies sei eine Zeit ununterbrochener Schwermut und Verwirrung gewesen. Sie fuhr regelmäßig zu deiner Schwester nach Connecticut, verbrachte zahllose Wochenenden bei dir in deinem Haus in Brooklyn, sah ihre Enkelin in schulischen Theateraufführungen und hörte sie als Solistin des Schulchors, verfolgte das immer zunehmende Interesse ihres Enkels am Fotografieren und war nach all den Jahren im fernen Kalifornien jetzt wieder ein Teil deines Lebens, war bei allen Geburtstagen, Feiertagen und besonderen Anlässen dabei – öffentlichen Auftritten deiner selbst und deiner Frau, Premieren deiner Filme (sie war eine Kinofanatikerin) und gelegentlichen Essen mit deinen Freunden. Noch immer, noch mit Mitte siebzig, bezauberte sie die Leute, denn in einem kleinen Winkel ihres Kopfs sah sie sich
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