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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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präzise Darstellung dessen, was im Sommer 2002 zwei Tage nach dem Tod deiner Mutter mit dir geschehen ist: der Hammer, der ohne Vorwarnung niedersaust, und dann die Atemnot, das Herzrasen, der Schwindel, die Schweißausbrüche, der Körper, der zu Boden stürzt, die Arme und Beine, die zu Stein werden, die Schreie, die aus verrückt gewordenen, luftleeren Lungen hervorbrechen, und die Gewissheit, dass dein Ende nahe ist, dass die Welt binnen einer Sekunde zu existieren aufhören wird, weil du dann selbst nicht mehr existierst.
    Der Film, 1950 unter der Regie von Rudolph Maté entstanden, trägt den Titel
D. O. A.
, Polizeijargon für
dead on arrival
, bei Ankunft tot, und das Opfer ist ein gewisser Frank Bigelow, ein Mann ohne besondere Eigenschaften, ein Niemand, ein Jedermann, etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein Wirtschaftsprüfer, Revisor und Notar, der in Banning, Kalifornien, lebt, einem kleinen Wüstenkaff in der Nähe von Palm Springs. Kräftig gebaut, mit fleischigem Gesicht und vollen Lippen, hat er wenig anderes im Kopf als Frauen, und da er sich von seiner neurotischen Sekretärin Paula erdrückt fühlt – einer Frau, die er womöglich heiraten wird oder auch nicht, die ihn jedenfalls anbetet und sich wie besessen an ihn klammert –, beschließt er spontan, sich eine Woche freizunehmen und allein in San Francisco Urlaub zu machen. Als er im St. Francis Hotel eincheckt, wimmelt es im Foyer von lärmenden Gästen. Wie er vom Empfangschef erfährt, ist zufällig gerade «Marktwoche», ein jährliches Treffen von Handelsvertretern, und jedes Mal, wenn eine attraktive Frau vorbeischlendert (alle Frauen im Hotel sind attraktiv), gafft Bigelow ihr mit großen Augen und offenem Mund nach. Damit man auch wirklich mitbekommt, dass er auf der Jagd ist, gibt es zu jedem dieser Blicke einen lustigen anerkennenden Pfiff, was wohl andeuten soll, dass Bigelow sein Glück nicht fassen kann, dass er, indem er an diesem speziellen Tag in dieses spezielle Hotel geraten ist, aller Wahrscheinlichkeit nach leichtes Spiel haben werde. Als er sich seinem Zimmer in der sechsten Etage nähert, tanzen auf dem Korridor halbbetrunkene Leute durcheinander (dazu wieder die lustigen Pfiffe), und hinter der offenen Tür des Zimmers unmittelbar gegenüber seinem ist eine ausgelassene Fete in Gang. So beginnt sein Urlaub.
    Paula hat aus Banning angerufen, und bevor er auspackt und sich einrichtet, ruft Bigelow sie zurück. Anscheinend ist eine dringende Nachricht von jemandem namens Eugene Philips aus Los Angeles eingetroffen, der darauf bestanden hat, dass Bigelow
auf der Stelle
Kontakt mit ihm aufnimmt, dass sie miteinander reden müssen,
bevor es zu spät ist
. Bigelow hat keine Ahnung, wer dieser Philips ist. Hatten wir geschäftlich mit ihm zu tun?, fragt er Paula, aber auch ihr ist dieser Mann unbekannt. Während dieses Gesprächs wird Bigelow ständig von dem Treiben auf dem Korridor abgelenkt. Frauen bleiben in seiner offenen Tür stehen und winken ihm lächelnd zu, und er winkt lächelnd zurück, ohne dabei sein Gespräch mit Paula zu unterbrechen. Vergiss diesen Philips, sagt er ihr. Er macht jetzt Urlaub, er will nicht gestört werden, er wird sich darum kümmern, wenn er wieder in Banning ist.
    Nachdem sie aufgelegt haben, steckt Bigelow sich eine Zigarette an, ein Kellner erscheint mit einem Drink, dann kommt einer der Zecher von gegenüber herein, stellt sich als Haskell vor und fragt, ob er das Telefon benutzen darf. Drei weitere Flaschen Bourbon und zwei weitere Flaschen Scotch werden für die Party auf 617 bestellt. Als Haskell erfährt, dass Bigelow fremd in der Stadt ist, lädt er ihn zu der Feier ein
(ein paar Drinks, ein bisschen lachen)
, und zwei Minuten später tanzt Bigelow in dem lärmenden Zimmer gegenüber mit Haskells Frau Rumba. Sue ist ein aufdringliches, beschwipstes Weibsstück, eine frustrierte Frau, die sich amüsieren will, und da Bigelow sich als geschickter Tänzer entpuppt, lässt sie gar nicht mehr von ihm ab – vielleicht nicht besonders klug, wenn man bedenkt, dass sie ihre Possen vor den Augen ihres Mannes treibt, aber Sue ist wild entschlossen. Etwas später beschließt die Clique von Zimmer 617 , irgendwo in der Stadt weiterzufeiern. Bigelow lässt sich widerwillig mitziehen, und plötzlich sind sie in einem überfüllten Jazzclub namens Fisherman, einem wüsten Laden, in dem eine Gruppe schwarzer Musiker gerade eine hektische Nummer spielt; an der Wand hinter ihnen steht das Wort JIVE

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