Winterjournal (German Edition)
nicht richtig verstanden, Bigelow. Sie sind ermordet worden.»
Das ist der Moment, in dem Bigelow ausrastet, in dem das Ungeheuerliche, das ihm widerfahren ist, zu ausgewachsener, unkontrollierter Panik entflammt und das Heulen und Zähneklappern beginnt. Er stürmt aus der Praxis, stürmt aus dem Gebäude und rennt durch die Straßen, und während du diese Passage des Films verfolgst, diese lange Sequenz von Einstellungen, die Bigelows wilde Flucht durch die Stadt nachzeichnen, begreifst du, du bist Zeuge der äußeren Ausprägung eines inneren Zustandes, diese sinnlose, überstürzte, unaufhaltsame Rennerei ist nichts Geringeres als das Abbild einer von Entsetzen gepackten Seele, du schaust der Choreographie des Grauens zu. Hier wird eine Panikattacke in einen atemlosen Sprint durch die Straßen einer Stadt übertragen, denn Panik ist nichts anderes als Ausdruck einer geistigen Flucht, eine ungebetene Macht, die in dir wächst, wenn du in der Falle sitzt, wenn die Wahrheit nicht mehr zu ertragen ist, wenn die Ungerechtigkeit dieser unausweichlichen Wahrheit nicht mehr zu bekämpfen ist und die einzig mögliche Reaktion daher darin besteht, die Flucht zu ergreifen und den eigenen Verstand auszuschalten, indem man sich in einen japsenden, zuckenden, rasenden Körper verwandelt, und welche Wahrheit könnte furchtbarer sein als diese? Zum Tode binnen Stunden oder Tagen verurteilt, in der Lebensmitte niedergemäht aus Gründen, die einem absolut unbekannt sind, das Leben plötzlich auf einen Fingerhutvoll Minuten, Sekunden, Pulsschlägen reduziert.
Es spielt keine Rolle, wie es weitergeht. Du siehst dir die zweite Hälfte des Films aufmerksam an, aber du weißt, die Geschichte ist aus, es gibt, selbst wenn sie weitergeht, nichts mehr zu erzählen. Bigelow wird seine letzten Stunden auf Erden mit dem Versuch verbringen, das Rätsel seiner Ermordung zu lösen. Er wird herausbekommen, dass Philips, der Mann, der aus Los Angeles in seinem Büro angerufen hat, gestorben ist. Er wird nach Los Angeles fahren und die Aktivitäten diverser Diebe, Psychopathen und hinterlistiger Frauen erforschen. Man wird ihn verprügeln und auf ihn schießen. Er wird erfahren, dass seine Verwicklung in die Geschichte reiner Zufall ist, dass die Schurken ihn töten wollen, weil er als Notar einen Kaufvertrag über eine gestohlene Lieferung Iridium beglaubigt hat und er der Einzige ist, der die Täter identifizieren kann. Er wird seinen Mörder aufspüren, den Mann mit dem sonderbaren Kragen, der auch der Mörder von Philips ist, und ihn bei einer Schießerei auf einem dunklen Treppenabsatz töten. Und wenig später wird Bigelow selbst sterben, genau wie die Ärzte gesagt haben – mitten im Satz, während er der Polizei seine Geschichte erzählt.
Nichts dagegen einzuwenden, die Sache so durchzuspielen, findest du. Das ist die übliche Vorgehensweise, die männliche, heroische Variante, das Muster, das allen Abenteuergeschichten angemessen ist, aber warum, fragst du dich, erzählt Bigelow keiner Menschenseele von seinem Schicksal, nicht einmal seiner Paula, die ihn abgöttisch liebt? Vielleicht, weil Helden bis zum bitteren Ende hart bleiben müssen und es sich, selbst wenn ihnen die Zeit davonläuft, nicht erlauben können, sich von sinnlosen Gefühlsduseleien aufhalten zu lassen.
Aber du bist nicht mehr hart, stimmt’s? Seit der Panikattacke von 2002 hast du aufgehört, hart zu sein, und obwohl du dir große Mühe gibst, ein anständiger Mensch zu sein, ist es jetzt lange her, dass du dich das letzte Mal für heldenhaft gehalten hast. Solltest du dich jemals in Bigelows Lage wiederfinden, wirst du nicht tun, was Bigelow getan hat, da bist du dir sicher. Du würdest durch die Straßen rennen, ja, du würdest rennen, bis du keinen Schritt mehr tun könntest, nicht mehr atmen, nicht mehr aufrecht stehen könntest, und was dann? Paula anrufen, Paula anrufen, sobald du zu laufen aufgehört hast, aber wenn ihre Nummer zufällig gerade besetzt ist, was dann? Dich auf den Boden werfen und weinen, die Welt verfluchen, weil sie zugelassen hat, dass du geboren wurdest. Oder aber, ganz einfach, dich irgendwo in ein Loch verkriechen und auf den Tod warten.
Du kannst dich selbst nicht sehen. Du weißt, wie du aussiehst, Spiegeln und Fotos sei Dank, aber wenn du dich draußen in der Welt unter deinen Mitmenschen bewegst, seien es Freunde, Fremde oder die innigst Geliebten, ist dein Gesicht für dich unsichtbar. Du kannst andere Teile von dir sehen,
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