Winterjournal (German Edition)
immer noch als Star, als die schönste Frau der Welt, und ihre Eitelkeit schien ungebrochen, sobald sie aus ihrem reduzierten, größtenteils eingeschlossenen Leben heraustrat. So vieles von dem, was aus ihr geworden war, stimmte dich traurig, aber es war dir unmöglich, sie nicht für diese Eitelkeit zu bewundern, für ihre Fähigkeit, immer noch einen guten Witz erzählen zu können, wenn Leute ihr zuhörten.
Ihre Asche hast du zwischen den Bäumen im Prospect Park verstreut. Fünf von euch waren an diesem Tag anwesend – deine Frau, deine Tochter, deine Tante, deine Kusine Regina und du selbst –, und den Prospect Park in Brooklyn hast du ausgewählt, weil deine Mutter als kleines Mädchen dort oft gespielt hatte. Einer nach dem andern habt ihr Gedichte vorgelesen, und nachdem du die rechtwinklige Metallurne geöffnet und die Asche auf das Laub zwischen den Sträuchern geworfen hattest, brach deine Tante (normalerweise verschlossen, einer der reserviertesten Menschen, die du je gekannt hast) in Tränen aus und stammelte immer wieder den Namen ihrer kleinen Schwester. Ein, zwei Wochen später, an einem strahlenden Nachmittag Ende Mai, führtet du und deine Frau euren Hund in dem Park spazieren. Du schlugst vor, zu der Stelle zu gehen, wo du die Asche deiner Mutter verstreut hattest, aber schon gut zweihundert Meter von den Bäumen entfernt, noch im offenen Gelände, wurde dir flau und schwindlig, und obwohl du Medikamente nahmst, um deinen neuen Zustand unter Kontrolle zu halten, spürtest du wieder einmal eine Panikattacke kommen. Du nahmst deine Frau beim Arm, und ihr zwei machtet kehrt und gingt nach Hause. Das war vor knapp neun Jahren. Seitdem hast du nicht mehr versucht, dich diesem Ort zu nähern.
Sommer 2010 . Hitzewelle, der Hundsstern bellt von Sonnenauf- bis -untergang und die Nächte hindurch, eine Reihe von Dreißig-Grad-Tagen und dann plötzlich einer von über vierzig. Es ist eine oder zwei Minuten nach Mitternacht. Deine Frau ist bereits zu Bett gegangen, aber du bist zu unruhig, du kannst nicht schlafen, und so bist du nach oben ins Wohnzimmer gegangen, in das Zimmer, das ihr beide die Bibliothek nennt, ein geräumiges Zimmer mit Bücherregalen an drei Wänden, und da diese Regale jetzt voll sind, vollgestopft mit Tausenden von Hardcovern und Taschenbüchern, die du und deine Frau im Lauf der Jahre angesammelt habt, stapeln sich auch auf dem Fußboden Bücher und DVD s, unvermeidliche Wucherungen, die mit den Monaten und Jahren immer weiter um sich greifen und der Bibliothek eine anarchische, aber anheimelnde Atmosphäre von Überfluss und Wohlergehen verleihen, die Art von Zimmer, die alle Besucher des Hauses als
gemütlich
beschreiben, und ja, es ist zweifellos dein Lieblingszimmer, mit seiner weichen Ledercouch und dem Flachbildfernseher, der ideale Ort, Bücher zu lesen und Filme anzusehen, und wegen des unerträglichen Wetters läuft die Klimaanlage und sind die Fenster geschlossen, sodass kein Laut des nächtlichen Potpourris aus Hundegebell und Menschenstimmen von der Straße ins Innere dringt, weder das schrille Falsett des sonderbaren dicken Mannes, der auf seinen Streifzügen durchs Viertel alte Schlager singt, noch das Rumoren vorbeifahrender Lastwagen, Autos und Motorräder. Du machst den Fernseher an. Das Spiel der Mets ist vor ein paar Stunden zu Ende gegangen, und da die Welt des Sports dir keine Zerstreuung zu bieten hat, schaltest du auf TCM , deinen Lieblingsfilmkanal, der rund um die Uhr alte amerikanische Filme zeigt, und kaum hast du einige Minuten zugesehen, fällt dir etwas Bemerkenswertes auf. Es beginnt, als du den Mann durch die Straßen von San Francisco laufen siehst, einen Mann, der panisch die Eingangsstufen des Krankenhauses herunterjagt und dann durch die Straßen rennt, einen Mann, der nicht weiß, wohin er soll, ziellos Bürgersteige voller Menschen entlanghastet, über die Straße rennt, im Vorbeilaufen Leute anrempelt, eine Kanonenkugel aus Raserei und Fassungslosigkeit, einen Mann, der soeben erfahren hat, dass er in wenigen Tagen, wenn nicht Stunden, sterben wird, weil sein Körper mit einem
strahlenden Gift
verseucht wurde, und da es zu spät ist, das Gift aus seinem Organismus zu spülen, gibt es keine Hoffnung für ihn, und obwohl er noch am Leben zu sein scheint, ist er in Wirklichkeit bereits tot, hat man ihn in Wirklichkeit schon ermordet.
Dieser Mann bist du selbst gewesen, sagst du dir, und was du hier auf dem Bildschirm siehst, ist eine
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