Winterjournal (German Edition)
desorientiert, und als der Kellner fragt, ob alles in Ordnung mit ihm sei, sagt das tödlich vergiftete Opfer, noch immer im Dunkeln über seine Lage, er müsse am Abend wohl zu sehr auf die Pauke gehauen haben und brauche jetzt erst einmal frische Luft.
Bigelow geht hinaus, taumelt kaum merklich, wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn und steigt in eine vorbeikommende Cablecar. Am Nob Hill springt er ab und geht zu Fuß weiter, geht am helllichten Tag durch menschenleere Straßen, geht zielstrebig irgendwohin – aber wohin und mit welchem Ziel? –, bis er die gesuchte Adresse findet, ein großes weißes Gebäude, in dessen Fassade die Worte MEDICAL BUILDING gemeißelt sind. Bigelow ist viel unruhiger, als er sich dem Kellner gegenüber hat anmerken lassen. Er weiß, ja er weiß, dass etwas nicht mit ihm stimmt.
Zunächst sind die Untersuchungsergebnisse ermutigend. Ein Arzt sieht sich Bigelows Röntgenaufnahmen an und sagt: «Lungen in gutem Zustand, Blutdruck normal, Herz in Ordnung. Gut, dass nicht alle so sind wie Sie. Dann wären wir Ärzte arbeitslos.» Bigelow soll sich wieder anziehen, man muss auf die Ergebnisse der von seinem Kollegen Dr. Schaefer durchgeführten Blutuntersuchungen warten. Während Bigelow im Vordergrund, mit ausdruckslosem Gesicht zur Kamera, seine Krawatte bindet, tritt hinter ihm eine Krankenschwester ins Zimmer, sie bringt vor Bestürzung kein Wort heraus und starrt ihn mit einer Miene an, in der sich Entsetzen und Mitleid spiegeln, und in diesem Moment ist nicht mehr zu bezweifeln, dass Bigelow dem Tod geweiht ist. Dr. Schaefer kommt herein, er versucht seine Anspannung zu verbergen. Er und der erste Arzt vergewissern sich, dass Bigelow unverheiratet ist, dass er in San Francisco keine Angehörigen hat, dass er allein in die Stadt gekommen ist. Wozu diese Fragen?, sagt Bigelow. Sie sind sehr krank, sagt der Arzt.
Sie müssen sich auf eine sehr schlimme Nachricht gefasst machen
. Und dann berichten sie ihm von dem strahlenden Gift, das in seinen Organismus eingedrungen ist und bald seine lebenswichtigen Organe angreifen wird. Sie wünschten, sie könnten etwas für ihn tun, sagen sie, aber gegen dieses spezielle Gift gebe es kein Gegenmittel. Er habe nicht mehr lange zu leben.
Bigelow ist fassungslos, er rast vor Zorn. Das ist unmöglich!, brüllt er. Sie müssen sich irren, das muss ein Irrtum sein, aber die Ärzte bleiben ruhig bei ihrer Diagnose und versichern, von einem Irrtum könne keine Rede sein – was Bigelows Zorn nur steigert. «Sie erzählen mir, ich bin tot!», schreit er. «Ich weiß nicht mal, wer Sie sind! Warum sollte ich Ihnen glauben?» Er erklärt die beiden für verrückt, stößt sie zur Seite und stürmt aus der Praxis.
Schnitt auf ein noch größeres Gebäude – ein Krankenhaus? Noch ein Ärztezentrum? –, und man sieht Bigelow die Eingangsstufen hinaufrennen. Er stürmt in einen Raum, NOTAUFNAHME steht da, wutschnaubend, kurz vorm Explodieren, drängt sich an zwei verdutzten, verängstigten Krankenschwestern vorbei und verlangt auf der Stelle einen Arzt zu sprechen, verlangt, dass jemand ihn auf strahlendes Gift untersucht.
Der neue Arzt kommt zum selben Schluss wie seine beiden Vorgänger.
Sie sind vergiftet. Ihr Organismus hat das Zeug bereits absorbiert
. Um das zu beweisen, schaltet er die Deckenlampe aus und zeigt Bigelow das Reagenzglas mit den Testergebnissen. Ein unheimliches Bild. Das Ding glüht im Dunkeln – als halte der Arzt eine Phiole mit leuchtender Milch in der Hand, einen mattierten, mit Radium gefüllten Kolben, oder noch schlimmer, den verflüssigten Fallout einer Atombombe. Bigelows Wut legt sich. Mit einem so überwältigenden Beweis konfrontiert, steht er da wie betäubt. «Aber ich fühle mich nicht krank», sagte er. «Nur ein bisschen Bauchschmerzen, das ist alles.»
Der Arzt ermahnt ihn, sich von dem scheinbaren Mangel an Symptomen nicht täuschen zu lassen. Bigelow habe vielleicht noch ein oder zwei Tage zu leben, höchstens eine Woche.
Daran ist jetzt nichts mehr zu ändern.
Sodann erfährt der Arzt, dass Bigelow keine Ahnung hat, wie, wann oder wo er das Gift zu sich genommen hat, was bedeutet, dass nicht er selbst, sondern jemand anders es ihm beigebracht hat, ein Unbekannter, was des Weiteren bedeutet, dass jemand sich mit Vorsatz darangemacht hat, ihn zu töten.
«Das ist ein Fall für die Mordkommission», sagt der Arzt und greift nach dem Telefon.
«Mordkommission?»
«Ich glaube, Sie haben mich
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