Winterkill
»Halt durch!«, sagte sie sich in Gedanken. »Du schaffst es, verdammt!«
Ihre Hände schmerzten. Ihre Augen brannten und ihre Haut war beinahe taub vom schneidenden Wind. Siefühlte sich einsam und verloren, als wäre sie der letzte Mensch in dieser großen Stadt, die letzte Überlebende einer Katastrophe im Kampf gegen unsichtbare Monster. Grausame Ungeheuer, die ihren Spaß daran zu haben schienen, sie möglichst lange leiden zu sehen. In der eisigen Luft glaubte sie ihre hässlichen Fratzen zu erkennen, im heulenden Wind hörte sie ihr höhnisches Lachen.
Die Gondel näherte sich dem Boden und schaukelte im Windschutz zwischen den Gebäuden nicht mehr ganz so stark. Sie würde es schaffen, nur noch ein paar Meter. Doch gerade, als sie dicht über dem Boden losließ und in eine Schneewehe stürzte, hörte sie die Sirenen. Die blauen Lichter mehrerer Streifenwagen leuchteten am Eingang.
Holte der Wendigo zum entscheidenden Schlag aus? Verbündete er sich erneut mit den Cops, um sie zu besiegen?
Sie verdrängte den Schmerz in ihren verkrampften Fingern, stand mühsam auf und rannte davon. Gebückt hastete sie durch den Wind, der sich zwischen dem flachen Gebäude eines Restaurants und einigen Imbissbuden verfing. Obwohl die Buden mit Brettern verrammelt waren und der Sturm an den Läden rüttelte, bildete sie sich ein, den verführerischen Duft von Hamburgern und Hotdogs zu riechen. Sie merkte, dass sie Hunger hatte. Seit Mittag hatte sie nichts gegessen.
Sie verharrte im Windschatten einer Imbissbude. Ihr verstauchter Knöchel schmerzte wieder. Sie bückte sich und rieb vorsichtig mit einer Hand darüber. Die Schwellung war selbst durch das Stiefelleder zu spüren. Sie erinnerte sich an Ethan, seine sanfte Berührung, als er den Knöchel gestreichelt hatte, und sein aufmunterndes Lächeln, und wurde schon im nächsten Augenblick in die Wirklichkeit zurückgerufen.
Die Sirenen der Streifenwagen kamen näher. Sie spähte um die Imbissbude herum und sah, dass die Cops das Tor abgesperrt hatten und mehrere Polizeiwagen auf das Riesenrad zurasten. Inmitten des dunklen Vergnügungsparks, der abgedeckten Karussells und verrammelten Imbissbuden drehte es sich immer noch im farbenfrohen Rausch der flackernden Lichter. Bekiffte Jugendliche oder Einbrecher, würden die Cops denken und den ganzen Pier nach den Tätern absuchen.
Sarah überlegte angestrengt. Zurück zum Eingang konnte sie nicht, dort würden sie die Cops auf jeden Fall erwischen. Sich der Polizei ergeben und darauf hoffen, dass der Wendigo in die nördlichen Wälder zurückgekehrt war? Viel zu riskant. Wie ein vernünftiger Mensch denken und den Wendigo ins Reich der Fabel verweisen? Das FBI, US Marshal O’Keefe oder Lieutenant Havelka rufen und endlich Ruhe haben? Dazu war in den vergangenen Stunden zu viel passiert. Der Wendigo war keine Einbildung, er hatte es aus irgendeinem Grund auf sie abgesehen. Es gab das Ungeheuer wirklich, auch wenn man sie wegen dieser Überzeugung für verrückt erklären würde. Er wollte ihren Tod und würde niemals aufgeben.
Die Streifenwagen kamen näher. Das helle Licht ihrer Scheinwerfer und das flackernde Blaulicht spiegelten sich auf dem Schnee und im Wasser des aufgewühlten Sees. Sie musste so schnell wie möglich verschwinden! Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, einem Versteck. Die Gebäude waren alle verschlossen, die Hütten versperrt. Die Fahrgeschäfte waren mit Planen abgedeckt. Selbst wenn sie es schaffte, sich unter einer der Planen zu verstecken, würden die Cops ihre Spuren im Schnee finden. Seitdem es geschneit hatte, war nur sie auf dem Pier gewesen, und der Schnee strahlte jungfräulich im Schein der buntenLichter, die an den Speichen des Riesenrades flackerten. Man würde sie entdecken.
Ihr Blick fiel auf die vertäuten Ausflugsboote. Dort blies der Wind ungebremst und würde ihre Spuren verwehen. Aber nur, wenn sie es schaffte, unbemerkt an den Cops vorbeizukommen.
Sie fackelte nicht lange, nützte die Verwirrung, als die Cops aus den Wagen sprangen und zum Riesenrad liefen. Humpelnd erreichte sie eine der großen Jachten, die bei schönem Wetter zu Ausflugs- und Dinnerfahrten über den Lake Michigan aufbrachen. Ein schnittiges Boot, fast schon ein Schiff, das sicher ein Vermögen gekostet hatte. Schaukelnd lag es im aufgewühlten Wasser, hob und senkte sich behäbig.
Sie kletterte an Bord und hielt sich an der Reling fest. Gegen den Wind ankämpfend, der sich zwischen den Aufbauten
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