Winterkill
mit den Füßen nach einer Sprosse, spürte sie unter ihrem rechten Stiefel und kletterte rasch nach unten.
Über dem Ruderboot zögerte sie. Heftige Wellen schlugen an dem Rumpf der Jacht empor und besprühten sie mit schäumender Gischt. Sie schüttelte sich widerwillig. Das Wasser war eisig und brannte auf ihrem Gesicht. In ihren Augen vermischte es sich mit den Tränen, die sie vor Wut und Angst weinte.
Sie blickte nach unten. Das Ruderboot hob und senkte sich mit den Wellen, spannte den Strick, mit dem es festgemacht war, und prallte mit einem dumpfen Geräusch gegen die Reling.
Auf der untersten Stufe verharrte sie in der Hocke und wartete auf den rechten Augenblick, um in das Boot zu springen. Einmal war es dicht unter und sie war bereits im Begriff, sich fallen zu lassen, machte aber in letzter Sekunde einen Rückzieher. Ihr war übel vor Angst. Einen Wimpernschlag zu früh oder zu spät und sie landete im See.
Das ärgerliche Fauchen des Wendigo, das ständig näher kam, ließ ihr keine Zeit mehr. Kaum tauchte das Boot wieder unter ihr auf, ließ sie sich fallen, landete im Wasser, das sich auf dem Boden gesammelt hatte, und hielt sich rasch an der Sitzbank fest.
Ihr blieb keine Sekunde zum Verschnaufen. Noch stürmischer, als sie befürchtet hatte, wühlte der Wind in dem schaumbedeckten Wasser und ließ das Boot wie einen Spielball tanzen. Ihr wurde schwindlig, und es gelang ihr kaum noch, sich zu orientieren, als hätte sich das Boot längst losgerissen und würde ziellos im See treiben.
Sie wischte sich mit einer Hand das Wasser und die Tränen aus den Augen und robbte zum Bug vor. Mit beiden Händen bekam sie den Strick zu fassen. Sie wartete, bis er sich lockerte, versuchte in Windeseile die Schlinge zu lösen und scheiterte, weil ein plötzlicher Windstoß die Leine straffte und sie durch den Stoß beinahe das Gleichgewicht verlor.
Beim nächsten Versuch klappte es besser. Die Schlinge löste sich, und das Boot trieb von der Jacht weg, wurde von einer Welle nach oben getragen und versank gleich darauf in einem tiefen Wellental, getrieben von dem scharfen Wind, als wollte er der Stadt zeigen, dass die Natur noch das Sagen hatte, auch hier in Chicago.
Sie hielt sich am Bootsrand fest und überließ es der Strömung, sie über den See zu treiben, nur weg von dem Wendigo, der in der Gestalt des Cops mit glühenden Augen an Bord der Jacht stand. Sarah war zu sehr damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, um sich nach ihm umzudrehen, aber sie spürte seine glühenden Augen, auch ohne ihm ins Gesicht zu blicken.
Der See war so stürmisch, dass nicht mal ein erfahrener Fischer die Leinen seines Bootes losgemacht hätte. Zu wild und unberechenbar war der Lake Michigan im Winter. Selbst die großen Erzfrachter blieben in den Häfen. Einsam und verlassen lag der schäumende See unter dem dunklen Himmel, bis auf das Ruderboot, das man nicht mal am hellen Tag vom Ufer aus gesehen hätte, so winzig war es im Vergleich zu den mächtigen Wellen. Wie das Meer rauschte der See, unberechenbar und hinterlistig und mit Strömungen, die einem selbst bei gutem Wetter zu schaffen machten. »Wie eine launische Frau«, behaupteten die Fischer, wenn ihre Ehefrauen oder Freundinnen nicht in der Nähe waren.
Sarah konnte nichts anderes tun, als sich mit beiden Händen an die Bootswand zu klammern und darauf zu hoffen, dass eine gnädige Strömung sie an Land schwemmte. Vor Angst wimmerte sie leise vor sich hin. Ihren schmerzenden Knöchel hatte sie längst vergessen, eine Lappalie im Vergleich zu der Gefahr, in der sie schwebte.
Weinend lag sie im Boot. Mit jeder Welle schwappte erneut Wasser über sie, eisig kaltes Wasser, das ihr jedes Mal den Atem nahm und sie verzweifelt nach Luft schnappen ließ. Ihre Kleider waren bereits klitschnass, nicht mal ihr wetterfester Anorak hielt der Wucht der Wellen stand. Bis auf ihre Haut drang das Wasser, hüllte sie in frostige Kälte und Nässe.
Eine Woge erfasste das Boot und schleuderte es nach vorn. Beim Aufprallen drehte es nach rechts und drohte zu kentern. Im letzten Moment kippte es aufs Wasser zurück. Sarah verlor den Halt, war schon halb im See und konnte sich gerade noch zurück ins Boot ziehen. Von der Anstrengung benommen und einer Ohnmacht nahe trieb sie ihrem Schicksal entgegen.
Sie wusste nicht, wo sie war. Trieb das Boot zum Ufer oder zog sie die Strömung auf den See hinaus? War ihr Tod längst beschlossene Sache? Sie schaffte es nicht, den Kopf zu
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