Winterkill
verfing und an Planen und Verschalungen rüttelte, tastete sie sich zum Vorderdeck. Sie ging hinter den Aufbauten in Deckung, war dem Sturm dort allerdings schutzlos ausgeliefert und musste sich mit beiden Händen festklammern, um nicht von Bord geschleudert zu werden.
Sie hielt die Augen die meiste Zeit geschlossen, gegen den Wind und die Kälte, und um nicht die schäumenden Wellen des Sees sehen zu müssen. Vereinzelte Eisbrocken schwammen im Wasser. Nur gut, dass die Jacht fest am Ufer vertäut war, eine Fahrt über den stürmischen Lake Michigan wäre bei diesem Wetter sicher kein Vergnügen gewesen. Hinter dem verschneiten Strand stiegen die Wolkenkratzer der Innenstadt in den dunklen Nachthimmel, auch mit den beleuchteten Fenstern bedrohlich.
Vom Ufer drangen Stimmen zu ihr herüber. Sie hob vorsichtig den Kopf und sah zwei Beamte zurAnlegestelle kommen. »Was willst du denn bei den Booten?«, hörte sie den einen sagen. »Da ist doch niemand.« Und der andere erwiderte: »Und wo kommen die Spuren her? Hier treibt sich jemand rum. Wir haben doch schon mal einen Junkie von einem der Boote geholt, weißt du nicht mehr?« Wieder der Erste: »Und wenn schon. Selbst wenn sich ein Einbrecher oder ein Junkie auf der Jacht rumtreibt, hat er bestimmt nicht das Riesenrad angestellt. Warum auch? So verrückt ist nicht mal ein Crackhead.«
Sarah merkte, wie der Fuß mit dem verstauchten Knöchel einschlief, und bewegte ihn ein wenig. Mit der Stiefelspitze kam sie gegen eine Kette, die leise scheppernd verrutschte. Sie duckte sich rasch und hielt vor lauter Schreck den Atem an. Ihr Herz hämmerte so laut, dass sie selbst davor erschrak.
»Hast du das gehört?« Der Cop, der zuerst gesprochen hatte. »Ich hab doch gesagt, dass jemand auf dem Boot ist.«
»Ich rufe Verstärkung.«
»Nicht nötig«, hielt ihn der Erste zurück. »Wir schaffen das schon allein. Ich …« Der Rest des Satzes erstickte in einem heiseren Röcheln und Husten.
Sarah schob den Kopf hoch und sah entsetzt, wie die Augen des einen Polizisten zu glühen begannen. Seine Bewegungen wurden steifer und ungelenker, und als er nach seiner Pistole griff, kam ein bedrohliches Fauchen über seine Lippen. Der zweite Polizist blieb fassungslos zurück, als wäre er zu Stein erstarrt, und blickte mit starren Augen seinem Kollegen nach, der sich mit weiten Schritten der Jacht näherte.
In panischer Angst suchte Sarah nach einem Fluchtweg. Der Cop versperrte ihr den Rückweg ans Ufer, und ins Wasser konnte sie bei diesen Temperaturen nicht springen.Sie würde keine drei Minuten in dem eisigen See überleben. Sollte sie die anderen Cops zu Hilfe rufen? Nicht die Mühe wert, niemand würde sie in dem Wind hören, nur der Kollege, der mit dem Cop gekommen war, und der war viel zu schockiert, um einen Finger zu rühren.
Sie saß in einer ausweglosen Falle. Der Wendigo würde sie vernichten, sie in das eisige Wasser werfen oder sonst etwas tun, um ihr einen qualvollen Abgang zu verschaffen, und sie konnte nichts dagegen tun. Das Glück hatte sie endgültig verlassen. Es war vorbei. Sie würde sterben, ohne jemals ein Museum geleitet zu haben, ohne an der Seite von Ethan dauerhaftes Glück zu erleben, ohne noch einmal das Lächeln in seinen blauen Augen gesehen zu haben. Es gab keine Zukunft mehr für sie.
»Solange es noch Hoffnung gibt, ist es nicht vorbei«, hörte sie die Stimme ihres Vaters. »Lass dich nicht unterkriegen, mein Kind! Denk an die tapferen Krieger deines Volkes, gib nicht auf !«
Sie hangelte sich zur Reling vor und sah eine ausgeklappte Metallleiter am Rumpf entlang nach unten führen. Sie endete über einem einfachen Ruderboot. Es war mit einem festen Strick an die Jacht gebunden, tanzte wie eine Nussschale auf den schäumenden Wellen. Jemand hatte vergessen, es an Bord oder an Land zu schaffen. Immer wieder schlug es mit dem Heck gegen den weißen Rumpf der Hochseejacht.
Das Glück hatte sie doch nicht verlassen, Kitche Manitu oder der Gott, der in der Kirche von Father Paul wohnte, hatten beschlossen, ihr zu helfen. Die Chance, die sie ihr boten, war nicht sehr groß, vielleicht sogar trügerisch. In einem Ruderboot auf dem stürmischen See kam man nicht weit. Aber es war die einzige Chance, die sie hatte. Sie griff mit beiden Händen danach.Das Fauchen des Wendigo in den Ohren und seine glühenden Augen im Rücken kletterte sie über die Reling. Der Wind schlug ihr mit voller Wucht entgegen. Sie hing einen Augenblick in der Luft, suchte
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