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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Mähdrescherfabrik, in der die »Schiffe der Steppe« produziert wurden. In Kriwoi Rog und Saporoschje entstanden neue Stahlhütten, im Donezbecken wurden neue Anthrazitkohleminen gewonnen. An jedem Tag des ersten Fünfjahrplans wurden eine neue Fabrik und 115 neue Kolchosen gegründet. Im ganzen Land setzte man die scheinbar fantastischen Ideen des Politbüros in Moskau um. Gewiss hatte der Staat bei der Bestrafung der Feinde der Revolution seine Gnadenlosigkeit unter Beweis gestellt, und der Preis für ein Scheitern wäre zweifellos hoch gewesen. Doch es ist schwer vorstellbar, dass diese Wunder der Industrialisierung nur durch Furcht allein möglich wurden. In der Flut der Propagandafotos glücklicher, lächelnder Arbeiter steckt auch ein Fünkchen Wahrheit, vermute ich. Einen intensiven Augenblick lang regte in den an dem großen Projekt beteiligten Männern und Frauen sich echter, glühender Stolz auf das, was sie erschufen.
    Bis zum Spätsommer 1930, weniger als ein Jahr nach Beginn des Fünfjahrplans, stand die Grundstruktur der Fabrik – die Mauern, endlose Glasdächer, Schornsteine, Brennöfen, Straßen, Schienen. Eine Fabrikzeitung wurde gegründet. Man nannte sie Temp , Tempo, um die Arbeiter zu größerer Produktivität anzutreiben, das Tempo zu erhöhen. Bibikow war der Chefredakteur, schrieb regelmäßig Artikel und bot Lehrgänge für die angehenden Journalisten unter den gebildeteren Arbeitern an. Er veröffentlichte auch ein paar Texte in der Iswestija , der großen Moskauer Tageszeitung, die Lenin gegründet hatte. Lenina erinnert sich, wie er am Morgen des Erscheinens seiner Artikel aufgeregt mehrere Ausgaben am Kiosk kaufte. Leider wurden damals die meisten Artikel ohne Hinweis auf den Verfasser veröffentlicht, und viele der Zeitungsarchive der damaligen Zeit wurden im Krieg zerstört. So bleibt es ein Geheimnis, was Bibikow schrieb.
    Alexandr Grigorjewitsch Kaschtanjer, der 1931 als Praktikant für die Temp arbeitete, schrieb Ljudmila 1963, was er von Bibikow noch wusste. »Damals war der Name Deines Vaters in aller Munde. Ich hörte die Reden des Genossen Bibikow in der Fabrik, bei Konferenzen, auf den Baustellen. Ich weiß noch, dass sie überzeugend und streitlustig waren. Die Zeiten waren turbulent, und allein der Name der Zeitung spiegelte die Gedanken der Arbeiter des Traktorenwerks wider: ›Los, wir haben keine Zeit zu verlieren, haltet das Tempo!‹ Du kannst stolz auf Deinen Vater sein; er war ein wahrer Soldat aus Lenins Garde. Tragt die Erinnerung an ihn wie ein Licht in euren Herzen!«
    Die Prawda veröffentlichte im Februar 1966 (nachdem Bibikow unter Chruschtschow offiziell rehabilitiert worden war) einen Artikel über das ChTS, der den Geist der heroischen Geburt der Fabrik heraufbeschwor. »Ich verbrachte den Sonntag im Haus des [Arbeiters] Tschernoiwanenko. Alle plauderten über die heutige Arbeit in der Fabrik«, schreibt der anonyme Prawda -Korrespondent. »Aber die Erinnerungen trugen uns immer wieder zurück in die Dreißigerjahre. Was für eine Zeit! Der Beginn des Zeitalters der Industrialisierung in der UdSSR! Wir erinnerten uns an die Menschen des ChTS, wie sie damals waren. Der streng dreinblickende, aber höchst gerechte Direktor Swistun, der Parteiagitator Bibikow – ein fröhlicher und beseelter Genosse, der unsere Jungen so inspirieren konnte, dass sie alle Schwierigkeiten im Sturm nahmen, sei es, in Rekordzeit ein Glasdach zu bauen oder die Böden zu teeren oder eine neue Maschine zu installieren. Dazu gab er keine Befehle, er riss alle mit durch die Leidenschaft seiner Überzeugung. ›Das waren keine gewöhnlichen Männer‹, sagte Tschernoiwanenko mit dumpfer Stimme, in der unterdrückte Leidenschaft schwang. ›Das waren Giganten!‹«
    Um den Zeitplan des Projekts einhalten zu können, setzte Bibikow das scheinbar paradoxe System des »sozialistischen Wettbewerbs« ein – er ließ die Schichtarbeiter in Gruppen darum wetteifern, wer die meiste Arbeit schaffte. Er gab den Arbeitern auch Helden aus ihren eigenen Reihen: »Männer, die durch ihr Vorbild andere zu großen Taten inspirieren und als wahre Helden in die Geschichte der Fabrik eingehen. Legendäre Menschen.«
    Die von Bibikow und der Propagandaabteilung der Temp geschaffenen Helden waren Männer wie Dmitri Melnikow, der einen 14 Tonnen schweren Bagger der amerikanischen Firma Marion in sechs Tagen zusammenbaute, nicht in zwei Wochen, wie es in der Bauanleitung des Herstellers hieß. Diese und

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