Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
in Gagra an der georgischen Schwarzmeerküste vorbereiten konnte.
Ich öffnete den zerfledderten braunen Pappdeckel der NKDW-Akte meines Großvaters an einem grauen Dezembermorgen in einem düsteren Büro im ehemaligen NKWD-Gebäude in Kiew, in dem sich heute die Zentrale des ukrainischen Geheimdienstes befindet. Die Akte ist auf 260 Seiten angewachsen und bewegt sich auf jenem ganz speziellen russischen Grat zwischen banaler Bürokratie und schmerzlicher Schärfe. Sie ist eine Ansammlung absurder Kleinlichkeit (Konfiszierung des Komsomol-Ausweises, Konfiszierung eines Browning Automatic mit 23 Ladungen Munition, Konfiszierung von Leninas Ferienpass der Jungen Pioniere) und krassen Terrors: lange Geständnisse, geschrieben in mikroskopisch kleiner, unleserlicher Handschrift, voller Kleckse und offensichtlich unter Folter verfasst, die förmliche Anklage mit der Unterschrift von Generalstaatsanwalt Wyschinski, der Zettel mit der hingekritzelten Unterschrift, der die Vollstreckung des Todesurteils bestätigt. Papiere, Formulare, Notizen, Belege – das ganze Zubehör einer albtraumartigen, sich selbst verschlingenden Bürokratie. Ein Stapel Papier, der für ein Menschenleben steht.
Das erste Dokument, so fatal wie alle, die danach kommen sollten, ist eine maschinengeschriebene Resolution des Regionalstaatsanwalts von Tschernigow, der die Verhaftung von »Boris L. Bibikow, Leiter der Abteilung für die Verwaltung der Parteiorgane in der Region Tschernigow« wegen mutmaßlicher Zugehörigkeit zu einer »konterrevolutionären trotzkistischen Organisation und organisierter antisowjetischer Aktivitäten« anordnet. Es wird empfohlen, Bibikow für die Dauer der Ermittlungen ohne Möglichkeit, auf Kaution freizukommen, festzuhalten. Sein Vatersname fehlt, als sei der Name von einer Liste übernommen worden, die jemand angefertigt hatte, der weder Bibikow kannte noch irgendetwas über seinen Fall wusste. Die Resolution des zivilen Staatsanwalts wurde noch am selben Tag durch eine Ermächtigung des NKWD bestätigt, aus der, als der komplizierte bürokratische Apparat Fahrt aufnimmt, am 22. Juli ein förmlicher Haftbefehl des örtlichen Staatsanwalts wird. Der Beamte Koschitschursin – oder so ähnlich, die Handschrift ist schwer zu entziffern – wird beauftragt, Bibikow »in der Stadt Tschernigow« zu finden. Er versagt – Bibikow ist bereits auf dem Weg nach Gagra. Gefasst wird er schließlich dort, am 27. Juli, und zurück nach Tschernigow ins Gefängnis des NKWD verbracht.
Was er wohl gedacht haben mag, als er auf die andere Seite des Spiegels trat, von der Welt der Lebenden in die der Verdammten, was er wohl gesagt hat, das weiß heute niemand mehr. Am einfachsten wäre es für ihn gewesen, gar nichts zu sagen, resigniert aufzugeben und sich als toten Mann zu betrachten. Doch so war er nicht. Er war ein Kämpfer, und er kämpfte um sein Leben, nicht ahnend, dass die Partei seinen Tod schon beschlossen hatte. Als Parteigenosse hätte er wissen müssen, dass kein Widerstand gegen den allmächtigen Willen der Partei möglich war – wir wissen aber, dass er irgendwann in den folgenden Monaten aufhörte, ein Apparatschik zu sein und einfach ein Mensch wurde, ein Mensch, der sich ein paar kurze Augenblicke fehlgeleiteter Tapferkeit lang weigerte, Lügen zu leben.
Alexander Solschenizyn schreibt in Der Archipel Gulag über die Einsamkeit des Angeklagten in der Haft, über die Verwirrung und die Entwurzelung, die Angst und die Empörung der Männer und Frauen, die in jenem Sommer rasend schnell die Gefängnisse der Sowjetunion füllten. »Der ganze Apparat warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf einen einsamen und unbefangenen Willen«, schreibt Solschenizyn. »Mein Bruder! Verdamme nicht die, die sich als schwach erwiesen und mehr gestanden, als sie sollten. Sei nicht der Erste, der den Stein wirft.«
Jewgenija Ginsburgs erschütternder Bericht über ihre eigene Verhaftung während der Säuberung und ihre 18-jährige Gefangenschaft, Marschroute eines Lebens , beschreibt das berüchtigte »Fließband« des NKWD. Gefangene wurden fortlaufend durch ganze Ermittlerteams verhört, ohne Nahrung und Schlaf, gequält, geschlagen und gedemütigt, bis sie unterschrieben oder ihr Geständnis abgaben. Die, die zuerst zusammenbrachen, wurden denen gegenübergestellt, die mehr Widerstand leisteten, um ihre Solidarität zu brechen. Man sagte ihnen, Widerstand sei zwecklos; wenn einer ein Geständnis ablegte, konnten die Übrigen
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