Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
die ihre Untergebenen lehrten, der Zweck heilige die Mittel? Die Männer, die vom NKWD rekrutiert wurden, waren dem berühmten Satz seines Gründers Felix Dserschinski zufolge entweder Heilige oder Schufte – und der Geheimdienst zog deutlich mehr als die übliche Zahl Sadisten und Psychopathen an. Aber sie waren keine Außerirdischen, keine Fremden, sondern Männer, russische Männer vom selben Fleisch und Blut wie ihre Opfer. »Wo kommt dieses Wolfsrudel in unserem eigenen Volk her?«, fragte Solschenizyn. »Hat es wirklich unsere Wurzeln? Unser Blut? Es ist unseres.«
Das war die wahre, dunkle Genialität hinter der Säuberung. Man steckte nicht einfach zwei Fremde in einen Raum, der eine das Opfer, der andere der Henker, und überzeugte den einen davon, den anderen zu töten. Man überzeugte beide davon, dass der Mord einer höheren Sache diene. Es fällt leichter, sich vorzustellen, dass solche Taten von Ungeheuern verübt werden, von Menschen, deren Verstand durch die Schrecken des Krieges und der Kollektivierungen verroht war. Doch in Wahrheit waren einfache, anständige Männer und Frauen, voller humanistischer Ideale und ehrenwerter Prinzipien, bereit, das Massaker an ihren Mitmenschen zu rechtfertigen und sogar daran teilzunehmen. »Um Böses zu tun, muss der Mensch zunächst glauben, dass das, was er tut, gut ist«, schreibt Solschenizyn. »Oder aber, dass es ein wohlüberlegter Akt in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen ist.« Das kann nur dann passieren, wenn ein Mensch nur noch politischer Rohstoff ist, eine Einheit in einer kalten Berechnung, dessen Leben und Tod verplant wird wie eine Tonne Stahl oder eine Ladung Ziegelsteine. Das war ohne Zweifel Bibikows Überzeugung. Er lebte nach ihr, und er starb nach ihr.
Ein Teil der Akte blieb mir zunächst verschlossen. Etwa 30 Seiten der »Rehabilitierungsuntersuchung«, eingeleitet von Chruschtschow im Jahre 1955 als Teil einer umfassenden Überprüfung der Opfer der Säuberungen, waren sorgfältig mit Klebeband zusammengeheftet worden. Doch es gelang mir, Panamarjew, der genauso neugierig war wie ich, zu überreden, heimlich das Klebeband zu lösen. Eilig begannen wir, diesen Teil der Akte durchzublättern.
Die verbotenen Seiten betrafen die NKWD-Männer, die an Bibikows Verhören teilgenommen hatten. Selbst ein halbes Jahrhundert später versuchte der ukrainische Geheimdienst noch, seine eigenen Leute zu schützen. Ihre Akten waren von den Ermittlern sortiert worden, die Bibikows Rehabilitierung vorbereitet hatten. Doch die NKWD-Beamten selbst konnten nicht befragt werden, weil sie alle bis Ende 1938 erschossen worden waren.
»Die ehemaligen Mitarbeiter des ukrainischen NKWD TEITEL, KORNEW und GEPLER … wurden wegen Fälschung von Beweisen und antisowjetischer Aktivitäten verurteilt«, besagt eines der Dokumente. »Ermittler SAMOWSKI, TRUSCHKIN und GRIGORENKO … wurden wegen konterrevolutionärer Aktivitäten strafrechtlich verfolgt«, steht in einem anderen Dokument.
Praktisch jede Person, deren Name in der Akte auftaucht, von den Angeklagten und ihren NKWD-Vernehmungsbeamten bis hin zum örtlichen Parteisekretär Markitan, der zwei Tage nach Bibikows Verhaftung den Befehl unterschrieb, ihn aus der Partei auszuschließen, war innerhalb eines Jahres umgebracht worden. Die Säuberung hatte ihre Schöpfer gefressen, und von ihren Leben waren nur noch dumpfe Echos im großen Schweigen des Papiers geblieben.
Das letzte Dokument in der Akte, gestempelt und nummeriert, war ein Brief, den ich in jenem Sommer an den ukrainischen Geheimdienst gesandt hatte mit der Bitte, die Akte meines Großvaters einsehen zu dürfen. Dabei bezog ich mich auf ein ukrainisches Gesetz, demzufolge nahe Verwandte Zugang zu ansonsten als geheim eingestuften NKWD-Archiven haben. Die Akte war von geschickten Händen sorgfältig gelöst und mein Brief gelocht, nummeriert und ganz ans Ende des Dossiers geheftet worden. So war die letzte Unterschrift in dieser fatalen Akte, an den unteren Rand des Briefes gekritzelt, meine eigene.
4
Verhaftung
Danke, Genosse Stalin, für unsere glückliche Kindheit
Parole auf einem Propagandaplakat von 1936
Selbst nach Jahren in Moskau wurde ich das Gefühl nie ganz los, in einem seltsamen Fadenspiel verschiedener Epochen zu sein.
Da waren die wunderlich historischen Spuren: Soldaten in Marschstiefeln und Reithosen, Babuschkas mit Kopftüchern, zerlumpte, bärtige Bettler wie aus einem Roman von Dostojewski, die obligatorischen
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