Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
Sie war eine dieser untersetzten, unbesiegbaren russischen Frauen mittleren Alters, die wie Dobermänner in den Vorzimmern aller großen Männer Russlands lauerten, Kartenverkaufsschalter beherrschten und Hotelrezeptionen kommandierten.
Nachdem wir die Einzelheiten mehrmals mündlich durchgegangen waren, zog sie andächtig ein leeres Formular hervor, über dem protokol stand, »offizielle Aussage«, und begann mit der Niederschrift der offiziellen Fassung meiner Aussage. Ich unterzeichnete unten auf jeder Seite und setzte meine Initialen neben jede Korrektur. Schließlich holte sie eine leere Akte mit der Aufschrift delo , »Kriminalfall«, und schrieb sorgfältig die Daten der Angeklagten auf den braunen Deckel. Die Akte war eröffnet. Von diesem Augenblick an waren ich, meine Angreifer, die Ermittler ihre Geschöpfe.
Drei Tage lang stolperte ich daraufhin auf Swetlanas Vorladungen hin immer wieder zur Polizeiwache, erschöpft von einer leichten Gehirnerschütterung. Die Polizeiwache wirkte bei Tageslicht sogar noch deprimierender, ein niedriges zweistöckiges Betongebäude in einem Hof voller schmutzigem Schneematsch, Mülltonnen und streunenden Hunden. Ich begegnete den Polizisten, die in der Nacht des Angriffs bei mir waren, und einer von ihnen versicherte mir in vertraulichem Flüsterton: »Wir sorgen dafür, dass die Typen eine interessante Zeit erleben.« Schuldbewusst musste ich feststellen, dass ich darüber Befriedigung verspürte.
Langer, unruhiger Schlaf in meiner sonnenlosen Wohnung im dritten Stock wechselte mit langen Nachmittagen auf der Wache. Ich hatte das Gefühl, irgendwie in eine verstörende Unterwelt gerutscht zu sein, in der ich mit hämmerndem Schädel zusah, wie der Stift der Ermittlerin über endlose Seiten Papier kroch, und hoffte, es möge endlich aufhören. Bis in meine fiebrigen, frustrierten Träume hinein beobachtete ich den kriechenden Stift, wie er sich in das billige Papier drückte, geführt von einer körperlosen Hand im harten Behördenlicht.
Am dritten Tag – doch irgendwie kam mir die Zeit viel länger vor als drei Tage, dieser bürokratische Albtraum zwischen Wachen und Schlafen – fühlte ich mich wie ein alter Mann, als ich die ausgetretenen Stufen zur Wache hinauftrottete, vorbei an der stinkenden Toilette, von der jemand die Klobrille geklaut hatte. Swetlana Timofejewna erwartete mich. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte, war sie in Uniform.
»Wir kommen jetzt zur ochnaja stawka «, sagte sie. Die ochnaja stawka , oder Gegenüberstellung, gehört routinemäßig zum russischen Ermittlungsverfahren. Dabei trifft der Angeklagte auf seine Kläger, und ihre Aussagen werden verlesen. Sie nahm die Akte schwungvoll an sich und führte mich die Treppe hinunter in einen großen Raum, der aussah wie ein großes Klassenzimmer. Reihenweise Bänke standen vor einem erhöhten Podium, auf dem wir nun schweigend Platz nahmen. Ich starrte auf die Maserung des Tisches.
Die Männer kamen so leise herein, dass ich sie erst hörte, als der Polizist die Tür schloss. Sie waren gefesselt und schlurften steif und mit gesenkten Köpfen. Sie ließen sich schwer in der vordersten Bankreihe nieder und sahen kleinlaut zu uns hoch, wie schuldbewusste Schuljungen. Sie waren Brüder, wie Swetlana Timofejewna mir erzählt hatte, Tataren aus Kasan. Beide waren verheiratet, hatten Kinder und lebten in Moskau. Sie sahen jünger aus, als ich gedacht hatte, und kleiner.
»Matthews, bitte vergeben Sie uns, wenn wir Ihnen wehgetan haben. Wenn wir irgendetwas tun können …«, setzte der Kleinere der Männer an, der ältere Bruder. Doch Swetlana Timofejewna schnitt ihm das Wort ab. Sie verlas meine unbeholfene Aussage in der längsten der vier Versionen und danach einen Arztbericht. Sie hörten schweigend zu; der Jüngere hatte den Kopf in die Hände gelegt. Ihre eigene Aussage war nur fünf Sätze lang und besagte, dass sie zu betrunken waren, um sich an das Geschehene zu erinnern, und dass sie freimütig ihre Schuld und ihre Zerknirschung zugaben. Am Ende jeder Aussage folgte ein unangenehmer Augenblick, wenn Swetlana Timofejewna den Angeklagten die Papiere zur Unterschrift zuschob. Ich wollte helfen und schob sie auf dem Tisch weiter, damit sie mit ihren klirrenden Handschellen unterzeichnen konnten. Sie nickten beide Male in höflicher Anerkennung.
»Haben Sie noch etwas zu sagen?«
Der ältere Bruder, der immer noch seinen gelben Mantel trug, fing an zu sprechen. Zunächst war er ganz ruhig, mit
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