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Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)

Titel: Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Owen Matthews
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Garderoben und Wählscheibentelefone, Fellmützen, Chauffeure und Dienstmädchen, Brot mit Speck, Abakusse anstelle von Registrierkassen, druckerschwarze Zeitungen, der Geruch nach Holzrauch und Außentoiletten in den Vororten, Fleischverkauf von Lastwagen voller Rinderkadaver, inmitten derer ein muschik *** mit einer blutigen Axt arbeitet. Manche Dinge scheinen sich seit der Zeit meines Vaters, ja meines Großvaters nicht verändert zu haben.
    Es gab einige wenige Augenblicke, in denen ich glaubte, einen Blick auf die albtraumartige Welt erhascht zu haben, die mein Großvater im Juli 1937 betrat. Einige Stunden lang sah und roch und berührte ich sie. Es genügte vielleicht, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es war, zumindest körperlich. Wie es in seinem Kopf und in seinem Herzen aussah, möchte ich lieber nicht wissen.

    Eines Abends Anfang Januar 1996, einen Monat, nachdem ich in Kiew die Akte meines Großvaters eingesehen hatte, ging ich bei leichtem Schneefall in Richtung Hotel Metropol. Ich war auf der Suche nach einem Taxi und bemerkte nicht, dass mir drei Männer folgten. Ich nahm sie erst wahr, als der Ärmel eines gelben Schaffellmantels auf mein Gesicht zukam, gefolgt von einem mächtigen Schlag gegen meinen Kiefer. Ich spürte keinen Schmerz, nur die Erschütterung, wie in einem ruckelnden Zug. Zwei oder drei Minuten lang vollführte ich einen graziösen Tanz, stand auf, fiel hin, rappelte mich wieder hoch, und die Männer schlugen immer weiter auf mich ein. Ich roch das nasse Fell meiner Mütze, die ich mir ins Gesicht drückte, um meine Nase zu schützen.
    Dann sah ich, als ich auf der Straße lag, die verkrusteten Vorderräder und schmutzigen Scheinwerfer eines roten Lada, der im Schnee auf uns zu hielt. Es war kaum zu glauben, doch ein Mann, dessen linkes Bein in einem gewaltigen Gips steckte, schob sich aus der Beifahrertür. Er brüllte etwas, und die drei Männer sahen plötzlich verlegen aus und schlenderten scheinheilig davon. Der Mann aus dem Auto half mir auf die Beine und fuhr dann davon.
    Im selben Augenblick kam ein Polizeijeep um die Ecke. Ich hielt ihn an, öffnete die Tür, berichtete murmelnd, was passiert war, und stieg ein. Als wir auf der Neglinnajastraße Geschwindigkeit aufnahmen, um die Angreifer zu verfolgen, klärte sich plötzlich mein Hirn, und die Zeit schaltete zugleich mit dem Polizisten am Steuer mehrere Gänge höher. Wir bogen in die Ochotny Rjad ein, und ich sah meine Angreifer, die an der Metrostation Lubjanka im Schnee spielten. Der Jeep schoss elegant quer über acht Fahrspuren hinweg und kam schliddernd neben den Männern zum Stehen.
    Die drei Männer holten ihre Pässe hervor, ruhig und selig betrunken, lächelnd in dem Glauben, es handele sich nur um eine Routinekontrolle. Zwei hatten die asiatischen Gesichtszüge der Tataren, der Dritte war Russe. Als sie mich aus dem Jeep klettern sahen, erstarrten sie und schienen zu schrumpfen.
    »Das sind die Männer«, sagte ich theatralisch und zeigte auf sie.
    Die beiden Tataren wurden in einen winzigen Käfig hinten im Jeep geschoben. Nicht einmal eine Viertelstunde war vergangen, seit sie angefangen hatten, mich zu verprügeln.
    In der Polizeiwache stand der ewige russische Gefängnismief aus Schweiß, Pisse und Verzweiflung. Die Wände waren oben beige und unten dunkelbraun gestrichen. Meine beiden Angreifer saßen in einem Käfig in der Ecke des Empfangsraums der Polizeiwache. Sie hatten die Gesichter in die Hände gelegt, sprachen leise miteinander und sahen gelegentlich zu mir hoch.
    Der diensthabende Polizist saß hinter einer Plexiglasscheibe, sein kleines Büro einen halben Meter höher als der übrige Raum. Vor ihm auf dem Tisch lagen mehrere große, viktorianisch wirkende Registerbücher, ein Satz Briefmarken, ein Stapel Formulare und ein Aschenbecher in Form einer Fanta-Dose. Er nahm ungerührt meine Daten auf, dann rief er seine Vorgesetzten an. Von diesem Augenblick an war das Schicksal der Männer besiegelt, glaube ich. Ich war Ausländer, das hieß, es würde Ärger geben, wenn der Fall nicht ordentlich bearbeitet wurde – Konsulatsbeschwerden ans Außenministerium, Papierkrieg.
    Die Ermittlerin, die den Fall übernahm, war Swetlana Timofejewna, Oberstleutnant der Moskauer Kriminalpolizei. Sie war eine selbstbewusste und matronenhafte Frau, die mich schamlos und penetrant von oben bis unten musterte und es offenbar gewohnt war, Männer in die Kategorien Schlappschwanz und Großmaul zu unterteilen.

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