Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
einer gezwungenen Kumpelhaftigkeit in der Stimme. Er sah mir fest in die Augen, und als er redete, hörte ich nicht mehr, was er sagte, spürte nur noch seinen Ton und las in seinem Blick. Er flehte mich an, sie zu verschonen. Mein Gesicht war zu einem entsetzten Lächeln erstarrt. Er beugte sich weiter vor, und eine Spur Panik kroch in seine Stimme. Dann fiel er auf die Knie und weinte. Er schluchzte laut, und sein Bruder weinte still.
Dann waren sie weg. Swetlana Timofejewna sagte etwas, doch ich hörte sie nicht. Sie musste es noch einmal wiederholen und meine Schulter berühren. Sie sagte, wir sollten gehen. Ich murmelte etwas davon, die Anklage fallen zu lassen. Sie seufzte schwer und machte mir mit müder Stimme klar, so als versuche sie, einem Kind die harten Tatsachen des Lebens zu erklären, dass das nicht möglich sei. Sie war keine hartherzige Frau, obwohl sie nun schon jahrelang dumme kleine Leute für dumme kleine Verbrechen verhaftet hatte. Doch obwohl sie die weinenden Frauen der Männer gesehen hatte und wusste, dass der Fall banal war, nicht wert der schrecklichen Strafe, die sie nun auslösen würde, wusste sie schon, dass sie noch am selben Nachmittag einen ausführlichen Bericht tippen würde, in dem sie empfahl, die beiden Männer bis zur Gerichtsverhandlung in Untersuchungshaft zu nehmen.
Wir steckten jetzt alle drin, die Maschinerie war angelaufen. Die Tatsache, dass ich Ausländer war, bedeutete, dass alles nach Buch ablaufen würde. Die Akte, die allmächtige Akte. Wir alle waren nun gezwungen, ihrem Lauf zu folgen, Schritt für Schritt, weil das einmal Geschriebene nicht mehr ungeschehen gemacht werden konnte.
Die beiden Männer verbrachten elfeinhalb Monate in der Butyrka, einem der berüchtigtsten Gefängnisse Russlands, und warteten auf ein Gerichtstermin. Irgendwann erhielt ich eine Vorladung vor Gericht, doch ich hatte Angst hinzugehen. Ein Freund ging an meiner Stelle hin und entschuldigte mich. Er erfuhr, dass die Brüder im Gefängnis an Tuberkulose erkrankt waren. Selbst in Abwesenheit des Opfers wurden sie verurteilt zu einer Haftstrafe, die der bereits in Untersuchungshaft verbrachten Zeit entsprach. Sie hatten ihre Jobs verloren, und ihre Familien waren nach Tatarstan zurückgekehrt. Als ich all das hörte, waren der Schock und sogar die Erinnerung an jene Nacht, in der unsere Leben so katastrophal kollidiert waren, längst verblasst. Die Geschichte ist verloren, versuchte ich mich zu überzeugen, im Babel der Horrorgeschichten, die durch die Nachrichtenabteilung wirbelten, in der ich arbeitete. Es war pervers, sagte ich mir, das Schicksal zweier schuldiger Männer zu beweinen, wenn doch jeden Tag die Zeitungen, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten, voller schrecklicher Geschichten über das Leiden Unschuldiger waren.
Doch die Erinnerung an den Schrecken und die Schuld, die ich empfand, als die beiden Männer vor mir um Gnade winselten, saß tief und gärte in mir. Ich glaube, dass viele Russen einen ähnlich schwarzen Schleim aus Trauma und Schuld und bewusstem Vergessen in ihrem Inneren haben. Er bildet einen reichhaltigen Kompost, in dem all ihre Genusssucht, ihre Heimtücke, jedes ihrer Vergnügen und jeder Verrat wurzeln. Für die verhätschelten Europäer, unter denen ich aufgewachsen bin, war es anders, auch wenn viele überzeugt waren, dass sie unter der Gleichgültigkeit ihrer Eltern, der Grausamkeit ihres Ehepartners oder persönlichem Scheitern gelitten hatten. Nein, der durchschnittliche russische 17-Jährige, schloss ich aus meinen jahrelangen Wanderungen auf der schlimmeren Seite des neuen Russland, hatte schon mehr echten Missbrauch und Hoffnungslosigkeit und Korruption und Ungerechtigkeit erlebt als die meisten meiner englischen Freunde in einem ganzen Leben. Und um zu überleben und glücklich zu sein, mussten die Russen so viel vergraben, so viel bewusst ignorieren. Kein Wunder also, dass ihre Freuden und ihre Schwelgerei so intensiv sind; sie müssen mit der Intensität ihres Leidens mithalten.
Nachdem die Wohnung der Bibikows in Tschernigow durchsucht worden war, hörten sie tagelang nichts. Bibikow kehrte nicht aus dem Urlaub zurück. Der NKWD erklärte Marta immer wieder, sie würde informiert werden, sobald es weitere Entwicklungen gäbe. Warja wurde zu ihren Verwandten aufs Land geschickt, und Marta und ihre beiden Töchter wohnten im Bad und in der Küche ihrer Wohnung, weil alle anderen Zimmer verschlossen und versiegelt waren. Marta kaufte
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