Winterkinder: Drei Generationen Liebe und Krieg (German Edition)
mit dem Geld, das noch in ihrem Portemonnaie war, Lebensmittel und nahm danach die wohltätigen Gaben der verbliebenen Nachbarn an.
Bibikows Kollegen wussten von nichts – viele von ihnen waren selbst verschwunden, und die übrigen hatten entweder furchtbare Angst oder vertrauten naiv darauf, dass der NKWD bald seinen Fehler berichtigen würde.
Einen großen Schrecken erlebte die Familie, als Marta die Kinder allein ihre Kirschsuppe essen ließ, eine traditionelle Sommerspezialität in der Ukraine, und wieder einmal ins Büro des NKWD ging, um nach Neuigkeiten zu fragen. Lenina las ein Buch, das ihr Vater ihr geschenkt hatte, und bemerkte nicht, dass sich ihre kleine Schwester Ljudmila alle Kirschkerne, so tief sie konnte, in die Nase gesteckt hatte und nicht mehr herausholen konnte.
»Ich bin eine Spardose«, erklärte Ljudmila ihrer Schwester und steckte sich noch einen Kern in die Nase. Ihre Mutter tobte, als sie nach Hause kam. Sie eilte mit Ljudmila ins Krankenhaus, wo eine strenge Schwester die Kirschkerne mit einer langen Zange entfernte, die offenbar extra für diesen Zweck vorgesehen war. Lenina bekam eine Tracht Prügel, weil sie nicht aufgepasst hatte, und weinte, weil sie nicht bei ihrem Vater Trost suchen konnte.
Nach fast zwei Wochen der Ungewissheit und Sorge beschloss Marta, Lenina nach Moskau zu den Brüdern ihres Mannes zu schicken, die gute Beziehungen hatten. Sie konnten doch sicher ein paar dieser Beziehungen spielen lassen und herausfinden, was geschehen war? Sie hatte kein Geld für eine Fahrkarte, also wickelte sie ein paar Silberlöffel in eine Serviette und ging zum Bahnhof, wo sie eine Schaffnerin um einen Sitzplatz im Kiew-Moskau-Express anbettelte, der spätabends durch Tschernigow fuhr. Die Schaffnerin verstaute Lenina in einem Gepäcknetz und wies sie an, sich absolut still zu verhalten. Sie sagte ihr auch, sie solle die Silberlöffel behalten. Marta rannte neben dem Zug her, bis er so schnell fuhr, dass sie nicht mehr mithalten konnte.
Zehn Jahre zuvor hatte Martas Vater sie von ihrem Zuhause weggeschickt, wo sie aufgewachsen war. Auf einem Bahnsteig in Simferopol hatte sie ihre sterbende Schwester ihrem Schicksal überlassen. Als sie nun die Lichter des Zuges, der ihre älteste Tochter nach Moskau brachte, in der Nacht verschwinden sah, wurde ihr klar, dass ihre neue Familie am Zerbrechen war. Sie ging ins Telegrafenamt und sandte ein kurzes Telegramm an die Verwandten ihres Mannes in Moskau, in dem sie Lenina ankündigte. Dann ging sie nach Hause. Ljudmila war auf einer Decke auf dem Küchenfußboden eingeschlafen. Sie hob sie hoch und, wie sie Lenina später erzählte, »heulte wie ein verwundetes Tier«.
Am Kursker Bahnhof in Moskau nahm Boris’ jüngerer Bruder Issaak Lenina in Empfang. Der andere Bruder, Jakow, ein Offizier der Luftwaffe, diente im Militärbezirk Ferner Osten in Chabarowsk bei Wladiwostok und wusste noch nichts von Boris’ Verhaftung. Issaak war 23 Jahre alt, ein vielversprechender Ingenieur im Flugzeugmotorenwerk Dynamo. Er umarmte seine junge Nichte und bat sie, ihre Geschichte für sich zu behalten, bis sie mit der Tram in die kleine Wohnung gefahren seien, die er sich mit seiner und Boris’ Mutter Sofija teilte. In der Küche hörten sie Lenina schweigend zu. Lenina fing an zu weinen, schluchzte, dass sie nicht wüsste, was ihr Vater falsch gemacht hatte. Issaak versuchte, sie zu beruhigen. Es sei alles ein Missverständnis, sagte er ihr, und er kenne Leute, die die Sache aufklären könnten.
Am nächsten Tag sprach Issaak mit einem Freund im Dynamo-Werk, einem der ortsansässigen Politoffiziere des NKWD. Der Mann war bis vor Kurzem persönlicher Leibwächter eines leitenden NKWD-Generals gewesen. Der Politoffizier versprach, er würde seine ehemaligen Kollegen fragen und versuchen, ein Gespräch zu organisieren, um das zu klären, was er taktvoll einen »schrecklichen Irrtum« nannte.
Zwei Tage später kam Issaak früh nach Hause, wies Lenina an, ihr bestes Sommerkleid anzuziehen, und führte sie an der Hand zur Tramhaltestelle. Sie fuhren schweigend ins Hauptquartier des NKWD am Lubjankaplatz. Die Lubjanka selbst war ein riesiges bürgerliches Gebäude, das einst eine vorrevolutionäre Versicherungsgesellschaft beherbergt hatte. Nach einer Erweiterung 1937 waren die Keller zu einem Gefängnis und Verhörzentrum beträchtlicher Größe umgebaut worden, das durch die nächtlichen Opfer der Säuberung aus allen Nähten platzte. Issaak und seine
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