Winterlicht
mehr als eine Wahrheit. Also zeigte er ihnen eine davon. Er zeigte ihnen, wie er sein könnte, wenn er nicht so wäre, wie er war.
Froi stieg hinter Finnikin aufs Pferd und klammerte sich an ihm fest. Finnikin sah aus, als würde er gleich aufhören zu atmen und aus dem Sattel kippen. Froi hörte, wie er die Göttin anflehte, Evanjalins Leben zu schonen. Dann würde er, Finnikin von den Felsen, sich ihrem Willen beugen und nie wieder an ihr zweifeln und Lumatere ganz nach ihrem Wunsch wiedererstehen lassen.
Finnikin beugte sich über sein Pferd und stieß ihm hart in die Flanken. Froi hatte nie zuvor jemanden angefasst, der so mit seinen Gefühlen zu kämpfen hatte. Unwillkürlich dachte er daran zurück, wie er versucht hatte, Evanjalin auf dem Dachboden der Scheune seinen Willen aufzuzwingen. Jetzt wie auch damals hatte er sich bei der Berührung fast verbrannt. Aber diesmal übertrug sich das innere Feuer auf ih n – und ein Same für die Zukunft keimte in ihm auf.
So erinnerte sich Froi, der Flüchtling, später an jenen Augenblick, als sie zurück zu der goldenen Wiese kamen, die zwar den Augen wehtat, aber Träume von allem Guten hervorrief: Auf der einen Wegseite war ein überwucherter Steinwall, auf der anderen erstreckten sich Olivenhaine und dazwischen Granatäpfel- und auch andere Apfelbäume. Und in der Mitte stand der Priesterkönig wie eine Geistererscheinung. Evanjalin wartete im hohen Gras. Sie war blass, aber ohne ein Anzeichen von Fieber.
Sie hatte sich Blümchen in das kurze, stoppelige Haar gesteckt, was Froi gut gefiel. Als Finnikin sie an sich zog und sein Gesicht an ihrem Hals vergrub und dann seine Lippen auf ihren Mund presste, taten die anderen so, als gäbe es auf der Wiese etwas sehr Interessantes zu sehen, und der Priesterkönig deutete sogar dorthin, wo es angeblich etwas zu sehen gab. Aber Froi folgte ihren Blicken nicht. Er sah genau zu, wie Finnikin die Hand an Evanjalins Hals legte und ihr mit dem Daumen sanft über die Wange strich und wie seine Zunge in ihrem Mund verschwand, so als müsste er sich von ihr Luft zum Atmen holen. Froi hätte gern gewusst, was Evanjalin sagte, als sie sich schließlich voneinander lösten. Was es auch war, es führte dazu, dass sie gleich weitermachten, und diesmal war ihr gegenseitiger Hunger so groß, dass auch Froi nicht länger zusehen konnte.
Als Evanjalin vor lauter Schwäche fast zu Boden sank, hob Finnikin sie hoch, trug sie zur Scheune zurück und legte sie behutsam nieder. Dann lauschten sie der sanften Stimme des Priesterkönigs, bei der Froi sich sofort ganz warm und behaglich fühlte, während Evanjalin darüber einschlief.
Froi biss kräftig in einen Granatapfel, der Saft lief ihm übers Kinn. Und der Priesterkönig verkündete, dass er eines Tages ein ganz neues Lied von Lumatere singen würde. Ihr Lied. Das Lied von Evanjalin, die mit einem Kind an der Hand durch die Träume der Menschen wanderte.
Denn es war so gewesen: Evanjalin wusste, dass sie und das Kind nicht miteinander sprechen konnten. Aber vielleicht konnte das Kind lesen. Deshalb schrieb sie drei Wörter an die Wand des Zimmers, in dem sie sich im Traum befanden. Mittel gegen Fieber? Aber das Kind konnte nicht lesen und die Buchstaben an der Wand verschwanden wieder.
Also kratzte sie mit ihren Nägeln die drei Wörter auf den Arm des Kindes, das, von dieser unerwarteten Grausamkeit gepeinigt, laut aufschrie. Danach harrte sie einen ganzen Tag lang aus und wartete auf eine Antwort in der darauffolgenden Nacht. Fast hätte sie jede Hoffnung aufgegeben. Als sie sah, dass keine Antwort auf dem Arm des Kindes stand, glaubte sie, es sei alles verloren, denn der Priesterkönig stand bereits an der Schwelle zum Reich der Götter. Doch dann drehte sich das Kind um, und unter dem Kragen des Nachthemds entdeckte Evanjalin Zeichen. Langsam hob sie das dünne Hemdchen. Der Rücken des Kindes war vollgeschrieben mit Anweisungen, Zeichnungen und Namen von Pflanzen. Daneben stand eine Frage. Drei Wörter, mehr nicht.
Ist Rettung nahe?
Evanjalin beging eine letzte Grausamkeit an dem unschuldigen Kind. Sie ritzte ein einziges Wort auf seinen Arm. Ein Name, der Hoffnung verkörperte.
Manchmal dachte Froi, nichts davon sei wirklich passiert, oder dass er sich alles falsch gemerkt hatte oder überhaupt nur geträumt hatte. Aber die Geschichte der Lumaterer enthielt schon genug von Flüchen und Leid, deshalb bat er Finnikin von den Felsen, diese Geschichte aufzuschreiben und zwar
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