Winterlicht
hätte er nicht mit ansehen müssen, wie Finnikin so tat, als müsste er Evanjalin etwas ganz Wichtiges mitteilen, und sich zu ihr beugte, aber dann nicht mehr wusste, was es war, und stattdessen ganz lange nah bei ihr stand. So nah, dass sich ihre Köpfe beinahe berührten.
Dann waren die anderen weg. Von da an wurde alles nur noch schlimmer.
In der ersten Nacht lagen sie in der Scheune und hörten zu, wie der Priesterkönig von Lumatere erzählte. Der alte Mann nahm an, dass er bald sterben werde, und wollte, dass sie sich an alles genau erinnerten. Er beschrieb das Lied von Lumatere und wie er es immer beim Herbstmondfest gesungen hatte, als die Menschen unter freiem Himmel schliefen und tanzten und sangen und lachten, und dass es Unglück bringe, es außerhalb von Lumatere zu singen. Froi konnte sich nicht so recht vorstellen wieso. Was ihn anging, konnte der Priesterkönig es genauso gut auch jetzt singen, denn Unglück waren sie ja gewohnt.
Die ganze Nacht hindurch blieb Froi wach und hielt den Priesterkönig fest, weil er so schlimm zitterte und zuckte. Froi hatte Angst, ihm womöglich eine Rippe zu brechen, weil der alte Mann so fürchterlich dünn war.
Evanjalin saß nur da und schaute zu. Sie hatte die Arme um sich geschlungen, weil sie fror, und daran erkannte Froi, dass sie als Nächstes an der Reihe war. Als sie Froi ansah, tat sie zum ersten Mal nicht länger so, als sei alles in bester Ordnung. Sie biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht zu weinen. Dann hörte der Priesterkönig für kurze Zeit auf zu atmen und Froi verspürte in seinem Inneren einen ganz schlimmen Schmerz, auch wenn er nicht genau wusste, weshalb.
„Finde, du solltest endlich zaubern.“
Evanjalins Lippen waren spröde und rissig, ihre Haut war ganz grau und ihre Stirn glänzte von Schweiß. Sie sah schon fast tot aus. Trotzdem schaffte sie es, ihm einen so finsteren Blick zuzuwerfen, dass er zusammenzuckte.
„Ich hab’s dir schon mal gesagt, Froi. Ich kann nicht zaubern.“
Jedes Mal wenn sie hustete, rasselte es, weil Schleim in der Lunge saß. Froi wurde ganz schlecht, wenn er das hörte, und er hatte mehr Angst als je zuvor.
„Du bist verflucht“, sagte er. „Und er auch. Überlebt jahrelang das Fieberlager und was sonst noch alles. Und ausgerechnet zwei Tage von daheim entfernt ist Schluss.“
Da fing sie an zu weinen. Er hatte ihre Wutausbrüche erlebt und oft genug auch Tränen in ihren Augen gesehen, aber nie zuvor hatte sie richtig geweint. Sie sah armselig aus und hilflos, wie sie so dasaß, den Kopf in die Hände gestützt, und immerzu hustete und irgendwelches Zeug erbrach.
„In Lumatere würden die Novizinnen der Sagrami jetzt Heilkräuter aus dem Wald zubereiten. Mit ihrer Mixtur haben sie schon Fieberkranke vor dem sicheren Tod bewahrt“, sagte sie.
„Dann mach was.“
„Ich weiß nicht wie“, schluchzte sie.
Ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte, damit es ihr besser ginge. Deshalb verzog er sich in eine Ecke der Scheune und tat so, als wäre alles in bester Ordnung.
Später saßen sie beide bei dem Kranken. Froi hielt die Hand des Priesterkönigs, die runzlig war und ganz dicke Adern hatte.
„Vergangene Nacht habe ich geträumt, Froi“, sagte der alte Mann mühsam, denn seine Lippen waren aufgesprungen. „Ich habe geträumt, dass du die Zukunft von Lumatere in den Händen hältst.“
„Das sagt Ihr nur, weil Ihr sterbt“, murmelte Froi.
Evanjalin knuffte ihn mit dem Ellbogen, damit er den Mund hielt. Der Priesterkönig schloss die Augen. Evanjalin zog Froi in eine Ecke der Scheune, wo es nach Pferdekot roch. Wenn der Hauptmann oder Finnikin oder Perri da gewesen wäre, hätte derjenige ganz bestimmt gesagt, Froi solle sich nützlich machen und den Dreck wegputzen.
„Wenn ein Mensch im Sterben liegt, dann sagt man ihm das nicht auch noch mitten ins Gesicht“, zischte sie wütend.
„Aber Finnikin hat es doch auch immer so mit der Wahrheit.“
„Es gibt verschiedene Arten von Wahrheit, Froi. Lass den Priesterkönig sagen, was er will. Und wenn er meint, dass die Zukunft Lumateres in deinen Händen liege, dann nicke einfach und stimme ihm zu.“
„Bald sind wir alle tot.“
Sie sah ihn fest an. Manchmal hasste er sie mehr als alle anderen, weil sie immer ganz genau zu wissen schien, was in seinem Kopf vorging. Die anderen taten so, als wäre er im Grunde seines Herzens gar kein schlechter Kerl. Als wäre er keine Ausgeburt des Bösen. Aber sie wusste es besser. Sie sah
Weitere Kostenlose Bücher