Winterlicht
Nach einiger Zeit wurden wir ungeduldig und schlenderten zu einer nahe gelegenen Koppel. Wir bemerkten nicht, dass ein wilder Bulle darin eingesperrt war. Riesig war er, und er glotzte zu uns herüber. Als Trevanion zurückkam und die Gefahr erkannte, war sein erster Gedanke, auf die Koppel zu rennen. Dies war einer der wenigen Tage in meinem Leben, an denen ich Furcht in den Augen meines Vaters sah. Er war der Hauptmann der Königlichen Garde, der beste Schwertkämpfer im ganzen Land, aber was wusste ein Mann des Flussvolkes von wilden Bullen?“
„Was wisst ihr Flussleute denn überhaupt?“, fragte einer aus dem Tiefland spöttisch.
„Mehr als ein Bauerntölpel“, konterte ein anderer und erntete noch mehr Gelächter. Finnikin nahm an, dass Neckereien und Scherze diesen Menschen sonst fremd waren.
„Wer, glaubt ihr, kam in diesem Augenblick zufällig vorbei? Es war Lady Beatriss, die im Grunde ihres Herzens stets ein Bauernmädchen geblieben war und viel von Tieren verstand. Ehe wirs uns versahen, winkte sie mit den Armen und befahl uns davonzulaufen, während der Bulle auf sie losstürmte.
Wir rannten um unser Leben und sprangen über einen Zaun, der so hoch war, dass ich bis heute nicht weiß, wie wir drüberkamen. Aber wir waren in Sicherheit. Lady Beatriss natürlich nicht. Ich könnte schwören, dass sie geflogen ist, als der Bulle sie verfolgte.
Meinem Vater blieb keine andere Wahl, als das Tier zu erlegen. Dann trug er sie aus der Koppel und legte sie unter einen Baum. Prinzessin Isaboe beugte sich schluchzend über sie und flehte sie an, die Augen zu öffnen. Und das tat sie auch nach wenigen Augenblicken. Als sie sah, dass wir in Sicherheit waren, atmete sie erleichtert auf und sagte zu Trevanion: ,Na? War das jetzt zupackend genug, Herr Hauptmann?‘ Dann gab sie ihm eine Ohrfeige, denn seine Hand lag auf ihrem Oberschenkel. Und dann fiel sie in Ohnmacht.“
Die Frauen klatschten Beifall und die Männer ächzten, doch die Kinder blickten ehrfürchtig zu Finnikin auf.
„Und von diesem Tag an machte mein Vater ihr den Hof.“
Finnikin sah sich um. Das Zelt quoll über von Menschen, von jungen Mädchen, die sehnsüchtig lächelten, und von jungen Männern, die sich vorstellten, sie selbst wären Trevanion. Aber was Finnikin am meisten berührte, waren die Gesichter der Älteren. In ihnen lag eine Mischung aus Freude und Trauer, weil ihre alte Welt verloren war.
„Ach ja, Trevanion“, murmelte Cibrian später, als sie vor dem Zelt saßen, in dem die Kinder schliefen. „Er hätte sich dem Thronräuber unterwerfen sollen.“ Er hatte gerade fünf große Forellen ausgenommen und briet sie über dem Feuer.
„Nein“, widersprach Finnikin bestimmt. „Die Wache des Königs unterwirft sich nur ihrem rechtmäßigen Anführer. Der Thronräuber war in die Ermordung der Königsfamilie verwickelt und mein Vater wusste es. Er konnte nicht ahnen, dass sie ihn mit der Gefangennahme von Lady Beatriss bestrafen würden.“
„Finnikin, ich bete zur Göttin Lagrami, dass dein Vater sicher zurückkehren möge, damit er auch uns nach Hause führt“, sagte Cibrian.
„Wenn wir vom König von Belegonia ein Stück Land bekommen, werdet ihr dann mit euren Leuten dorthin gehen?“, fragte Finnikin.
Cibrian schüttelte traurig den Kopf. „Wenn wir dauerhaft in einem fremden Land siedeln, bedeutet das: Lumatere ist für alle Zeiten verloren.“
„Vielleicht war es das ja schon imme r …“
„Ich werde diese Menschen an niemanden verraten“, sagte Cibrian mit leiser Stimme, „aber unter uns sind Leute aus Lumatere, di e … Fähigkeiten besitzen. Fähigkeiten, die nicht nur bei den Waldbewohnern vorkommen. Man munkelt, dass Balthasar zurückkehren wird.“
Finnikin spürte, wie Evanjalin neben ihm zusammenzuckte.
„Träume und Vorahnungen“, fuhr der Mann fort. „Könnte es sein, dass die Hexe Seranonna aus ihrem Grab heraus den Fluch wieder rückgängig machen will?“
Mit einem Blick warnte Sir Topher Finnikin davor, auf diese Frage einzugehen. So wandten sie sich wieder dem Essen zu.
Nach dem Mahl saß Finnikin in dem Zelt, das er mit seinen drei Gefährten teilte, und trug die Namen von Cibrians Volk in das Buch von Lumatere ein. Bis jetzt hatten sie auf ihren Reisen eintausendsiebenhundertunddreißig Vertriebene getroffen. In der Zählung, die man in Lumatere im Frühjahr vor den Fünf Tagen des Unsagbaren vorgenommen hatte, hatte man sechstausendundzwölf Bewohner gezählt.
„Können wir
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