Winterlicht
Lord Augustin vertrauen?“, fragte er Sir Topher leise auf Belegonisch, während er seine Aufzeichnungen beendete. „Ich finde, wir sollten auf direktem Weg nach Sorel reisen.“
„Er ist die einzige Verbindung, die wir zum Hof von Belegonia haben. Vielleicht macht er uns im Auftrag des Königs ein Angebot.“
„Aber weshalb ist er dann nach Charyn gekommen? Wir haben den Charyniten nie getraut.“
„Und du hast nie den Edelleuten aus Lumatere, die sich an fremden Höfen verdingten, vertraut“, sagte Sir Topher.
„Ihr selbst habt es Euch auch nicht an fremden Höfen bequem gemacht.“
„Beim Obersten Ratgeber ist das etwas anderes. Aber ich verstehe auch die Entscheidung des Herzogs und sogar unseren Botschafter in Osteria. Haben sie nicht viele Male in unserem Sinne gewirkt und die Lebensbedingungen der Vertriebenen verbessert? Wir werden diese Einladung annehmen. Du wirst ihn besuchen.“
„Weshalb ich?“
„Du bist Trevanions Sohn. Dein Vater hat seinem Vater gedient.“
„Mein Vater hat seinen Vater gehasst.“
„Du wirst ihn besuchen, Finnikin“, sagte Sir Topher entschieden. „Das könnte der wichtigste Schritt zum Landerwerb für unsere Leute sein.“ Er blickte hinüber zu Evanjalin und dem Dieb. „Jeder von uns wird einen der beiden mitnehmen. Evanjalin kann dich begleiten. Wir wollen doch nicht, dass der Dieb bei Lord Augustin Unruhe stiftet. Heute Abend haben die Leute davon gesprochen, dass der Priesterkönig in dieser Gegend gesehen wurde, und auch ihn muss ich treffen.“
Finnikin klappte sein Buch zu. „All dieses Gerede über Balthasars bevorstehende Rückkehr! Diese Trauer um Trevanion! So was verleitet nur dazu, in der Vergangenheit zu leben, untätig herumzusitzen und auf ein Wunder zu warten.“
„Es ist jetzt beinahe zehn Jahre her“, seufzte Sir Topher. „Da wundert es nicht, wenn die Menschen sich an die Ereignisse von damals erinnern, als wären sie ferne Vergangenheit. Lass ihnen doch ihre Träume und ihren Aberglauben; wir arbeiten währenddessen an unseren Siedlungsplänen.“
Kapitel 5
S ie gelangten über das benachbarte Osteria nach Belegonia und zu dem Scheideweg, von dem aus die Straßen nach Norden führten. Die Paläste von Osteria und Lumatere wie auch die Grenze zu Sendecane waren alle nur einen Tagesritt entfernt. Als sie sich gerade anschickten, dem Wegweiser zu folgen, der nach Süden, zur Hauptstadt von Belegonia führte, fiel Finnikins Blick auf den Wegweiser nach Norden. Jemand hatte das Wort „Lumatere“ darauf einfach weggekratzt.
Einen Augenblick lang schweiften seine Gedanken ab, seine Erinnerung führte ihn auf eine Straße, die von Weinreben und Olivenbäumen gesäumt war. Mit seinem Vater war er diese Straße oft entlanggegangen. Dann war er jedes Mal auf den Hügelkamm gestiegen, von dem aus man über das Tal der Stille blicken konnte. Dort lag einem das Königreich von Lumatere zu Füßen: Dörfchen mit gepflasterten Straßen, von denen Hufgetrappel heraufdrang, blühende Wiesen, die Hütten am Fluss, der sich durch das Königreich schlängelte und auf dem das Leben pulsierte. In Gedanken folgte er dem Fluss bis zur Mündung, wo mit Kisten beladene Kähne ausliefen und die Schätze des Königreichs bis nach Yutlind im fernen Süden und bis an die äußersten Enden von Sarnak brachten. Er sah im Geiste sein Felsendorf und das Räucherhaus seines Onkels, in dem Fleisch und Fisch von der Decke hingen. Vor seinem inneren Auge tauchten die Steinbrüche auf, in die er Balthasar und Isaboe mitgenommen hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie die beiden Königskinder die Dörfler beeindruckt hatten, weil sie sich so bereitwillig am Graben und Höhlenbauen beteiligten.
Lucian aus den Bergen hatte einmal behauptet, es sei nicht normal, in Höhlen zu leben. „Höhlenmenschen“ hatte er Finnikins Leute genannt, und obwohl Finnikin manchmal die Nachteile des Lebens im Felsendorf zu spüren bekam, ging ihm doch nichts über die weite Aussicht. Er freute sich, Bauern zu sehen, die Eicheln von den alten Bäumen schlugen, um damit ihre Schweine zu füttern. Er freute sich über den Anblick von Familien, die gemeinsam auf dem Feld mit Sicheln den Weizen schnitten und die Ernte einbrachten. Und in der Ferne thronte hoch oben der Palast des Königs, der über all die geliebten Menschen innerhalb des Königreichs wachte wie auch über jene, die außerhalb der Mauern im Wald von Lumatere wohnten.
Nur einmal waren Finnikin und Sir Topher in das
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