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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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Tal der Stille zurückgekehrt, das war im fünften Jahr ihrer Vertreibung. Damals hatte sich der dunkle Nebel, der einst bis zu den Mauern des Königreichs gelangt war, ausgebreitet und ein Drittel des Tals verschlunge n – auch den Wald von Lumatere. Aber gerade in dem Moment, in dem Finnikin verzweifeln wollte, weil nichts von der Heimat zu sehen oder zu spüren war, öffnete sich die Narbe an seinem Schenkel. Sie rührte von der Wunde her, die er sich damals beigebracht hatte, als er gemeinsam mit Balthasar und Lucian das Treuegelöbnis abgelegt hatte. Jetzt begann sie erneut zu bluten. Er berührte die Wunde und ein Glücksgefühl durchströmte ihn, als hätte die Göttin selbst ihm ein Körnchen Hoffnung eingepflanzt. Hoffnung darauf, dass Balthasar noch am Leben war und der Fluch bald gebrochen und Lumatere wieder frei sein würde.
    Doch als sie von dem Hügel hinabstiegen und sich ihren Weg durch den dunklen Nebel bahnten, hielt sie eine starke Kraft zurück. Finnikin gab nicht auf. Er hatte etwas verspürt dort oben auf dem Hügel. Obwohl ihn Sir Topher sanft zum Gehen drängte, versuchte er wieder und wieder, ins Königreich zu kommen. Bis der Abend dämmerte und die Sonne unterging.
    „Wir werden nicht zurückkehren, Finnikin“, sagte Sir Topher traurig. „Hier gibt es nichts mehr für unser Volk. Wir werden ihm eine Heimat in der Fremde suchen müssen.“
    Finnikin war unendlich müde. Und er wusste, dass Sir Topher Recht hatte.
    Es war töricht zu glauben, dass Balthasar noch lebte. Von diesem Tag an wagte Finnikin nicht mehr, die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Lumatere zu nähren, und er verwünschte jeden, der anders dachte.
    Drei Tage später schlugen sie ihr Lager am Rand der Hauptstadt von Belegonia auf. Finnikins Stimmung hatte sich gebessert, während er mit Evanjalin auf die Stadt zugeritten war. Ein Zauber lag auf diesem Ort. Belegonia war für seine Wissenschaften berühmt, und bei jedem ihrer Besuche hatte Sir Topher dafür gesorgt, dass der Junge alles genoss, was die Stadt an Anregungen zu bieten hatte. Immer dann, wenn er glaubte, jeden Winkel der Stadt zu kennen, entdeckte er wieder eine neue Straße, eine unbekannte Ecke, und das gefiel ihm. Ihm gefiel, wie lebhaft man in diesen Straßen diskutierte. Ihm gefiel, worüber man in diesen Straßen diskutierte. Nicht nur über die Steuern und über den Tod, sondern auch über Architektur, die neuesten philosophischen Sätze und über die Geschichte des Landes, die Will der Bäcker so, Jark der Metzger aber anders sah. Im ganzen Land existierten die Menschen: Sie schliefen, aßen und arbeiteten. In Belegonia aber führten die Menschen ein wahrhaft lebenswertes Leben, so wie einst auch die Menschen in Lumatere.
    Im Zentrum der Stadt vernahmen Finnikin und Evanjalin Musik. Ein Mädchen spielte die Flöte, ein Mann schlug die Trommel, und gemeinsam stampften sie den Tak t – eins, zwei, drei, vier. Finnikins Herz begann wild zu pochen. Einen Augenblick lang, als die Umstehenden zu tanzen anfingen, verlor er Evanjalin aus den Augen. Doch dann stand sie wieder vor ihm und ihre Augen funkelten voller Freude.
    Als die Trommelschläge durch die Straßen klangen, hob sie langsam die Arme und klatschte über ihrer linken Schulter in die Hände. Er sah ihr in die Augen und klatschte, ohne nachzudenken, über seiner rechten Schulter in die Hände. Dann stampfte Evanjalin genauso langsam mit den Füßen und auch dies tat er ihr nach. Es war der Anfang des Erntemondtanzes, und als die Schläge schneller wurden und alle sich drehten und mit den Füßen stampften, überließ er sich ganz dem berauschenden Tanz mit Evanjalin.
    Aber dann änderte sich der Takt und Finnikin kam wieder zu sich. Er nahm Evanjalin an die Hand und führte sie weg.
    Als sie sich den Häusern am Marktplatz näherten, kehrte Finnikins Widerwillen zurück. Er ärgerte sich immer noch darüber, dass sie Lord Augustins Bitte gefolgt waren. Augustin vom Tiefland war der Sohn jenes Fürsten, den Trevanion als junger Fußsoldat hatte beschützen müssen. Als ihn Trevanion verließ, um gegen die Eindringlinge zu kämpfen, folgte ihm Lord Augustin; er wollte beweisen, dass er nicht nur der Sohn eines vornehmen Vaters war, sondern auch selbst Tapferkeit beweisen konnte. Finnikin wusste, dass über all die Jahre eine tiefe Freundschaft zwischen seinem Vater und dem Edelmann entstanden war. Aber er konnte nicht vergessen, dass er und Sir Topher seit den Fünf Tagen des Unsagbaren keinen

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