Winterlicht
„Geflohen? Nie und nimmer. Ich habe dir schon einmal gesagt: Ich weiß nicht, wo er ist. Sie haben ihn vor sieben Jahren heimlich in der Nacht verschleppt. Ich weiß nur, dass er nach Yutlind Nord gebracht wurde, aber dort scheint er nicht mehr zu sein. Ich vermute, der Botschafter weiß, wo er ist, aber er will nicht über Trevanion sprechen. Er sagt, er tue nur das, worum der Hauptmann ihn gebeten habe.“
Finnikin grub sich die Fingernägel ins Fleisch.
„Ich erinnere mich noch daran, wie ich ihn hier im Gefängnis besucht habe“, fuhr Lord Augustin fort. „Er hat jedes Mal nur gefragt: ‚Ist mein Junge in Sicherheit?‘ Solange die Antwort Ja lautete, war es ihm gleichgültig, was mit ihm geschah. Aber du könntest ihn überzeugen, Finnikin. Wenn man Trevanion finden und ihn befreien könnte, dann käme auch die Garde aus ihrem Versteck. Dann stünden die mächtigsten Männer von Lumatere bereit, uns nach Hause zu führen.“
„Selbst wenn wir wüssten, wo mein Vater, seine Männer oder der Thronerbe sind, so nützt uns das nichts, weil es kein Königreich mehr gibt. Habt Ihr das schon vergessen?“, fragte Finnikin spitz.
„Der Thronerbe ist der Schlüssel zu allem, Finnikin. Balthasar weiß, wie wir in das Königreich gelangen können. Diejenigen unter uns, die besondere Gaben haben, sprechen darüber. Sie spüren etwas. Sie spüren jemanden.“
„Lasst mich zum König“, bat Finnikin erneut.
Der Herzog schüttelte den Kopf, in seinem Blick lag eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Und mit einem Mal kam es Finnikin so vor, als blicke er in das Gesicht seines Vaters.
„Der König wird eine Gegenleistung dafür erwarten“, sagte Lord Augustin abweisend.
„Belegonia kann es sich leisten, uns hier zu beherbergen, Mylord. Deshalb haben wir ja dieses Königreich gewählt und nicht Osteria. Seht all das freie Land. Auf unserem Weg hierher sind wir fünf Tage lang über saftigste Wiesen und fruchtbarsten Boden geritten. Alles lag verlassen, vernachlässigt da, während zur selben Zeit unser Volk in überfüllten Lagern leben muss.“
„Sie werden sagen, das gehe sie nichts an, Finnikin.“
„Wen geht es dann etwas an?“
„Sie werden sagen, dass sie genug für uns getan haben, dass sich unser Volk nun selbst helfen muss. Dass es sich anpassen muss in diesem Land. Sie behaupten, dass sie nichts tun könnten gegen die Verbrecher, die ständig die Lager in Angst und Schrecken versetzen.“
„Glaubt Ihr das wirklich?“, fragte Finnikin.
Lord Augustin sah ihn eindringlich an. „Meinst du, ich frage mich nicht ständig, was ich noch tun könnte? Meinst du, ich würde diese Lager nicht besuchen und nicht am liebsten jeden Einzelnen von ihnen mit zu mir nach Hause nehmen? Aber wen soll ich mitnehmen? Das mutterlose Kind? Die schwangere Frau? Den Mann, der seine gesamte Familie verloren hat?“ Er schüttelte den Kopf, und Finnikin wusste sofort, dass das Gespräch beendet war. „Mach dem König ein gutes Angebot, dann wird er uns vielleicht helfen.“
Finnikin stand auf, die Hoffnungslosigkeit ließ ihn verstummen.
„Dann sagt ihm Folgendes.“
Die Stimme war kräftig, aber rau, so als müssten sich Kehle und Stimmbänder noch ans Sprechen gewöhnen. Und sie redete in der Sprache von Lumatere.
„Sagt ihm, der Thronräuber hat nicht alleine gehandelt“, sagte Evanjalin, während sie näher kam. „Sagt ihm, dass Lumatere niemals der Zweck war, sondern nur das Mittel.“ Sie stellte sich neben Finnikin. Jetzt, da sie sprach, wirkte sie ganz anders auf ihn. Die Worte zauberten ein Funkeln in ihre Augen wie zuvor die Musik.
„Wie kann das kluge Charyn die Herrschaft über Belegonia, seinen mächtigsten Rivalen, an sich reißen? Indem es das Reich, das zwischen beiden Ländern liegt, durch einen Marionettenherrscher gefügig macht. Wenn sich Charyn dazu entschließt, Belegonia zu überfallen, dann wird es ein Blutvergießen schlimmer als in Lumatere geben.“
Lord Augustin trat ganz nahe vor Evanjalin hin. Finnikin wagte kaum zu atmen. Sie streifte seinen Arm, und er spürte, dass auch sie zitterte.
„Wer bist du, dass du von solchen Dingen weißt?“, flüsterte der Herzog in ihrer Muttersprache.
„Wenn jemand stumm ist, dann sprechen die anderen umso mehr, Mylord.“
„Und was willst du mit deinen Enthüllungen bezwecken?“ Er sah Finnikin fragend an. „Was geht hier vor, Finnikin?“
„Ihr habt um etwas gebeten, was selbst der König von Belegonia nicht weiß“, antwortete
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