Winterlicht
aufzubauen. Und als ich dabei zusah, wie ein Junge, ebenfalls in meinem Alter, die Toten nacheinander ablud, dachte ich das Gleiche. Ich stellte mir vor, er wäre Schreiner. Ich konnte es geradezu vor mir sehen. In einer Totengrube malte ich mir die Zukunft von Lumatere aus und dachte nicht mehr an seine Vergangenheit.“ Finnikin suchte erneut den Blick seines Mentors. „Das haben wir nie getan, Sir Topher. Wir haben die Namen der Toten zusammengetragen, wir haben Pläne für eine neue Heimat geschmiedet und uns eine Regierung ausgedacht, aber immer nur mit Tinte auf Pergament und einem traurigen Seufzer.“
Endlich hob Sir Topher den Kopf. „Weil jedes Quäntchen Hoffnung mehr schon zu viel gewesen wäre, mein Junge. Ich hatte Angst, wir könnten darin ertrinken.“
„Dann ertrinke ich lieber in Hoffnung, als im Nichts dahinzutreiben“, sagte Finnikin. „Vielleicht hast du Recht, Vater, und sie hat mich verhext mit ihrer Hoffnung. Aber diese Hoffnung ist jetzt in mir, und da nützt es auch nichts, wenn ich mir Erleichterung verschaffe und mir nehme, was ich will. Siehst du nicht dieses Feuer in ihren Augen? Und möchtest du nicht am liebsten wegschauen, weil du ihm nichts entgegenzusetzen hast? Ihre Hoffnung vertreibt die unerträgliche Schwere, mit der ich jeden Morgen aufwache.“
Finnikin hielt Trevanions bohrendem Blick stand, aber er fragte sich voller Kummer, ob er seinen Vater bereits wieder verloren hatte.
„Sie glaubt, dass die jungen Mädchen in Lumatere sterben“, sagte Sir Topher leise.
„Warum erfahren wir nichts über die Träume, die sie angeblich belauscht?“, fragte Trevanion. „Wenn sie eine besondere Macht hat, warum wissen wir trotzdem noch immer so wenig von Lumatere? Weil sie lügt.“
„Sie hat eine Gab e …“, begann der Priesterkönig.
„Ja, die Gabe zu täuschen. Deshalb erträgt sie meine Anwesenheit nicht, weil sie genau weiß, dass ich sie durchschaut habe“, sagte Trevanion schneidend. „Zum Beispiel ihre Lügen über Sarnak.“
„Das sind keine Lügen“, sagte Finnikin.
Trevanion seufzte missmutig. „Finnikin, sie konnte uns ja nicht einmal sagen, woher die Leute dort stammten, ganz zu schweigen davon, was genau geschehen ist.“
Finnikin schluckte schwer und dachte an die zierliche Handschrift im Buch von Lumatere . „Die meisten stammten aus dem Flussdorf Tressor“, sagte er leise.
Er sah, wie sein Vater unter der Wucht dieses Namens wankte. Trevanion kannte die Bewohner dieses Dorfes, er war dort aufgewachsen. Immer wenn er dienstfrei hatte und auf Reisen war, hatte er das Dorf besucht, sich zu den Leuten gesetzt und ihren Geschichten gelauscht, während er seinen Sohn auf den Knien schaukelte.
„Sie ist eine Empathin“, sagte der Priesterkönig. „Sie kann Eure Anwesenheit nicht ertragen, Hauptmann Trevanion, weil Eure Gefühle so stark sind. Euer Hass. Eure Liebe. Euer Leid. Das ist der Grund, warum sie im Kloster so glücklich war. Die Novizen der Göttin Lagrami üben sich darin, ihre Gefühle zu beherrschen. Bei ihnen hat sie inneren Frieden gefunden.“
Aber Trevanion hörte nicht zu. „Ich gehe nach Süden“, sagte er. „Und ich will alles daran setzen, dass du mich begleitest, Finnikin. Ich kann dir nicht erlauben, einen Weg einzuschlagen, der ins Verderben führt.“
„Wenn du nach Süden gehst, tust du aber genau das“, erwiderte Finnikin.
Sir Topher und er sahen einander an.
„Froi!“, rief Sir Topher, woraufhin der Junge erschien. „Mach dich nützlich und hole Evanjalin.“
„Ich bin hier“, sagte sie leise am Eingang des Zeltes. Sie blickte an Sir Topher vorbei zu Trevanion. „Was wollt Ihr über Traumwandeln wissen, Hauptmann? Vielleicht, dass meine Begleiterin auf diesen Reisen ein Mädchen von höchstens fünf Jahren ist? Wir sind einander so gegenwärtig wie Ihr und ich hier in diesem Zelt: keine Trugbilder, keine Geistererscheinungen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut. Das Kind gehört zu den Lebenden und hat mich stets im Traum geleitet, aber wir haben nie miteinander gesprochen. Wir suchen uns nicht aus, wen wir im Schlaf besuchen. Wir halten einander dabei an den Händen, ihre ist weich und klein und voller Vertrauen und stark. Manchmal spüre ich die Anwesenheit einer dritten Person, die, wie ich glaube, auf das Kind achtgibt. Wir sehen, was der Schlafende sieht und denkt. Er weiß nicht, dass wir da sind. Die meiste Zeit stolpern wir durch grauen Nebel. Vergangene Nacht war ich im Schlaf bei einem
Weitere Kostenlose Bücher