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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melina Marchetta
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verrieten, dass sie gar nicht daran dachte, die Führung abzugeben. Aber sie wurde langsam müde. Schließlich deutete sie vor sich auf die Straße nach Speranza und versuchte Finnikin mit der anderen Hand zum Anhalten zu bewegen. Er stieß ihren Arm beiseite und brachte sie damit zum Stolpern. Ohne auch nur kurz stehen zu bleiben, folgte er dem Dieb, der über den Holzzaun einer Wiese sprang. Von den Verfolgern hinter ihnen war nichts mehr zu hören, da war nur sein und Evanjalins keuchender Atem.
    Als der Dieb innehielt und nach Luft schnappend in die Knie ging, ließ sich auch Finnikin neben ihm ins Gras sinken und ebenso Evanjalin. Finnikin rollte sich auf den Rücken und hielt sich vor Schmerz die Seite. Als er den Kopf hob, erhaschte er Evanjalins triumphierendes Lächeln.
    Der Dieb starrte die beiden an und in seinem Blick lagen weder Unterwürfigkeit noch Dankbarkei t – und auch keine andere Regung.
    „Du gehörst jetzt mir“, sagte Evanjalin unverblümt und setzte sich auf. „Vergiss das nicht, Junge.“
    Trevanion und Sir Topher warteten vor der Taverne auf sie. Beim Anblick des Diebs machte Sir Topher große Augen, aber ehe er ein Wort sagen konnte, eilte Evanjalin auf ihn zu.
    „Ich habe ihn wiedergefunden!“, rief sie atemlos. Sie hielt den Rubinring in die Höhe.
    Finnikin fiel auf, mit welch zärtlicher Zuneigung Sir Topher sie ansah, ehe er ihre Hand nahm und ihre Finger fest um den Ring schloss. „Am besten, du versteckst ihn gut, Evanjalin.“
    „Wir müssen fort von hier, und zwar schnell“, mischte sich Finnikin ein.
    „Das Pferd?“, fragte Sir Topher.
    „Ist weg.“
    „We r …“
    „Später“, unterbrach ihn Finnikin und drängte alle zur Wirtshaustür hinein.
    Trevanion starrte den Dieb an, der aussah, als würde er ihn gleich anspucken.
    „Wenn du das tust, bist du tot“, sagte Finnikin warnend.
    „Er sagt, sein Name sei Froi“, verkündete Evanjalin.
    Darauf knurrte der Junge etwas Unverständliches.
    „Er ist ein Dieb, sonst nichts“, sagte Finnikin. „Er hat eine aufgeplatzte Lippe, wer weiß, was er alles gesagt hat.“
    „Jeder Mensch hat einen Namen, Finnikin. Man heißt nicht einfach ,Dieb‘ oder ,Junge‘. Sein Name ist Froi.“ Der Dieb von Sarnak öffnete den Mund, aber Evanjalin hob warnend den Zeigefinger. „Ich kann dich genauso rasch wieder verkaufen, wie ich dich gekauft habe“, sagte sie eisig.
    „Du hast ihn nicht gekauft, du hast ihn gestohlen“, wandte Finnikin ein.
    „Ich habe neue Regeln für ihn aufgestellt“, erklärte sie Sir Topher, ohne die anderen überhaupt zu beachten. „So, wie Ihr es gesagt habt. Wisst Ihr noch?“
    Was auch immer Sir Topher vorgeschlagen hatte, Finnikin sah ihm an, dass er es bereits zutiefst bedauerte.
    „Da ist noch etwas.“ Finnikin blickte zu Trevanion hin, der bisher geschwiegen hatte.
    „Dachte ich mir’s doch“, murmelte Sir Topher. „Und was für eine Überraschung ist es diesmal?“
    „Ich glaube, die Nachricht wird Euch freuen. Evanjalin hat den Priesterkönig gefunden.“

Kapitel 10

    A ls sie am darauffolgenden Tag das Flüchtlingslager betraten, verschlug es Sir Topher die Sprache. Aber vor allem den Gesichtsausdruck seines Vaters würde Finnikin lange nicht vergessen. Trevanion hatte ja noch nie zuvor ein solches Lager gesehen, hatte sich nie vorstellen können, unter welchen Bedingungen seine Landsleute nun schon jahrelang lebten, daher hatte ihn auch nichts auf dieses Elend vorbereiten können. Er kannte Bestrafung, Kerkerhaft und Rache. Aber das hier? Welches Verbrechen gegen die Götter hatten diese Menschen begangen, um so bestraft zu werden?
    „Weiter hinten wird es noch schlimmer“, warnte ihn Finnikin. Die Enge, die Dreckpfützen und der Unrat überall auf den Wegen erschwerte es ihnen voranzukommen. Aber anders als am Vortag begleitete sie diesmal ein Wispern und Raunen von allen Seiten. Und dann sah Finnikin in den Augen eines Mannes in seiner Nähe zum ersten Mal etwas Neues: einen winzigen Hoffnungsschimmer.
    „Es ist Trevanion aus dem Flussland“, hörte er eine Frau sagen. „Und der Oberste Ratgeber des Königs.“
    Je weiter sie zwischen den Zeltreihen vordrangen, desto mehr Flüchtlinge kamen aus ihren armseligen Behausungen. An der Grenze zum Fieberlager waren es bereits so viele, dass sie sich durch die Menge hindurchschieben mussten. Kinder starrten sie von den Schultern ihrer Väter herab an, in ihren Augen stand die Qual des Hungers.
    Ein Mann mit weißen Haaren und

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