Winterlicht
Kräfte nicht fürs Reden verschwenden durften. Manchmal, wenn Finnikins Finger von der beißenden Kälte schmerzten und seine Haut sich anfühlte, als müsste sie der tobende Wind jeden Moment in Fetzen reißen, stellte er sich sein zukünftiges Leben als Berater eines fremden Königs vor. Aber statt bequem irgendwo bei Hofe zu sitzen, durchstreifte er das Land auf der Suche nach Gardesoldaten, die womöglich gar nicht gefunden werden wollten, und sein Ziel war ein Königreich, das es schon längst nicht mehr gab.
In der vierten Nacht suchten sie Zuflucht in einer Höhle. Vor Kälte zitternd lagen sie dicht aneinander. Alle paar Stunden wechselten sie die Plätze, damit jeder die Gelegenheit hatte, etwas Wärme abzubekommen. Finnikin träumte, er läge wieder im Mutterleib und spräche mit Beatriss’ Kind. Als er erwachte, fand er sich in den Armen seines Vaters wieder; er selbst hatte beide Arme um Evanjalin gelegt.
Sie hat in den letzten Nächten geträumt und jetzt wieder, dachte Finnikin, denn sie wälzte sich unruhig in seinen Armen. Ihr Haar saß jetzt wie eine dünne dunkle Haube auf ihrem Kopf, und trotz des Schmutzes war ihr Gesicht seltsam schön und harmonisch. Auch wenn sie schmal geworden war während der Reise, so war sie doch alles andere als zart. Trotzdem hatte Finnikin Momente der Schwachheit bemerkt; dann zeigte ihr Gesicht einen Ausdruck tiefen Schmerzes. Und manchmal schien es, als könnte sie kaum ihren Kopf heben, so stark drückten die Dämonen sie nieder.
„Sir Topher! Sir Topher!“
Finnikin schreckte beim Klang ihrer Stimme hoch. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er wieder eingeschlafen war.
„Ich glaube, ich weiß es jetzt“, sagte Evanjalin.
„Bei der Schmerzensgöttin, hat das nicht bis morgen Zeit?“, fragte Sir Topher, den sie so unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte.
„Was weißt du jetzt?“, fragte Trevanion.
Finnikin setzte sich gähnend auf. Die letzten Holzstückchen im Feuer waren nur noch Glut und die Feuchtigkeit war in seine Knochen zurückgekehrt.
„Sie sind vielleicht gar nicht tot“, sagte Evanjalin nachdenklich. „Der Bäcker träumte von Kirschblüten. Er zündete eine Kerze an und bot der Göttin Sagrami ein Opfer dar.“
„Evanjalin, du musst schlafen“, sagte Finnikin. „Du redest Unsinn.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss wach bleiben und alle Träume zu einem einzigen Bild zusammensetzen.“
Sir Topher rieb sich die Augen. „Froi, mach dich nützlich und fache das Feuer wieder an.“
Froi murrte und wollte seine warme Lagerstatt nicht verlassen, doch Sir Topher schubste ihn hinaus. Sie zogen alles an Kleidung an, was sie hatten, und krochen näher ans Feuer. Froi stocherte in der Glut und murrte vor sich hin.
„Vor drei Nächten war ich in den Träumen des Bäckers; er lachte im Schlaf“, sagte Evanjalin.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Lumaterer innerhalb oder außerhalb der Grenzmauern etwas zu lachen hat“, sagte Finnikin geradeheraus.
„Seltsam ist nur, dass der Lehrjunge des Bäckers gerade mal drei Wochen zuvor den Tod der Bäckerstochter beklagte“, sagte Evanjalin. Sie runzelte verwirrt die Stirn, und Finnikin verspürte den Wunsch, sie glatt zu streichen.
„Evanjalin, was du sagst, ist Unsinn.“
„Ja, welcher Mann würde denn drei Wochen, nachdem er sein Kind verloren hat, lachen?“, überlegte sie laut.
„Komm endlich zur Sache“, sagte Trevanion ungehalten.
„Dazu muss ich weiter zurückgehen. Ungefähr ein Jahr. Damals besuchten das Kind und ich die Träume eines Soldaten des Thronräubers. Jener Mann dachte an ein Mädchen aus dem Tiefland, das an diesem Tag gestorben war. Er teilte zwar nicht die Trauer der Eltern, doch ihr Tod brachte ihn ins Grübeln. Er zählte nach und kam darauf, dass zwanzig junge Mädchen während der letzten vier Jahre gestorben waren.“
„Zwanzig?“, wiederholte Sir Topher entsetzt.
Evanjalin nickte. „Aber ich muss noch weiter ausholen.“
Finnikin brummelte ungeduldig, aber sie hob die Hand und bat um Geduld. „Hört zu. Vor achtzehn Jahren schenkte die Königin von Osteria der Königin von Lumatere ein Blütenkirschbäumchen. Es war ein Friedensangebot nach Jahrzehnten des Misstrauens zwischen beiden Königreichen.“
„Evanjalin, es ist doch Unsin n …“
„Aber so hört doch: Meine Mutter hat mir die Geschichte von der Königin, die nicht wusste, wo sie den Baum pflanzen sollte, oft erzählt.“
„Sie suchte im ganzen Königreich,
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